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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Hügels oberhalb der Gabelung nach Osten, wo er abstieg, seine Decke im Gras ausbreitete und sich gelangweilt darauf ausstreckte.
    Eine Stunde später klarte der Himmel auf, und Lhandro nahm die Berge ein weiteres Mal durch Shans Fernglas in Augenschein. Er stellte mehrmals die Schärfe nach, reichte das Glas dann an Shan zurück und deutete auf eine Stelle zwischen zwei Gipfeln. Der Paß war verschwunden. Statt dessen ragte eine leuchtendweiße Wand auf, deren oberste Schicht aus großen gezackten Schneebrocken bestand, was tatsächlich auf eine Lawine schließen ließ.
    »Dieser Mistkerl«, knurrte Lhandro, als wäre Dremu dafür verantwortlich. Dann rief er den anderen zu, sie müßten umkehren.
    Shan betrachtete den Paß und die steilen, bedrohlich wirkenden Berge zu beiden Seiten. »Auf dem Weg zum See seid ihr hier durchgekommen?«
    »Da oben waren Vorräte versteckt.«
    Shan sah Lhandro forschend ins Gesicht. »Soll das heißen, jemand anders hat sie dort zuvor bereitgelegt?«
    Der rongpa erwiderte nichts.
    »Purbas« , sagte Shan.
    »Es hat ihm hier oben gefallen«, sagte Lhandro nach einem Moment. »Er sagte, er habe einen Freund, den er zurückbringen wolle, und dann würden sie gemeinsam den Berg hinaufrennen.«
    »Drakte war dort?«
    »Er hat gesagt, alles sei geheim und niemand dürfe über ihn oder seine Vorhaben sprechen.«
    Lhandro sah Shan wieder in die Augen. »Aber ich schätze, für ihn besteht nun keine Gefahr mehr. Er war vor mehr als zwei Monaten in Yapchi und hat erzählt, einige Lamas würden die Rückkehr des Auges vorbereiten, während er zu diesem Zweck einen sicheren Weg nach Norden finden müsse, auf dem niemand Verdacht schöpfen würde. Nachdem wir uns auf die Salzkarawane geeinigt hatten, ist Nyma mit ihm fortgegangen.«
    Drakte war hier oder ganz in der Nähe gewesen. Shan ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Es war, als würde er in umgekehrter Richtung die letzten Tage von Draktes Leben nachvollziehen. »Ist er mit euch und den Schafen gereist?«
    »Nein, aber er kam dreimal in unser Dorf. Das erste Mal kurz nach der Entdeckung des Auges in Lhasa, nachdem Nyma von den Worten des Orakels erzählt hatte. Dann vor zwei Monaten und zum drittenmal letzten Monat. Er hat nach Einzelheiten über die Salzkarawane gefragt und mir diese Karte gegeben, damit wir wissen würden, wo er Vorräte versteckt hatte, und uns nicht in die Nähe einer Ansiedlung begeben müßten. Er sagte, ihr würdet auf Pferden kommen, und wir könnten die Tiere dann behalten.«
    Pferde waren wertvolle Besitztümer und für viele Hirten und Bauern unerschwinglich.
    »Die Frau am See hat von einem General der purbas erzählt, der von den Kriechern gejagt wird. Der Tiger. Hat er geholfen? Ist er in die Sache mit dem Stein verwickelt?«
    Es könnte vieles erklären. Vielleicht waren die Armee und die Kriecher gar nicht hinter ihnen her. Die Fährte eines so bedeutenden Widerstandsführers würde die Soldaten unerhört beflügeln.
    »Ich weiß es nicht. Eines Abends wollte Drakte sich in den Felsen oberhalb unseres Dorfes mit jemandem treffen. Ich bin mitgegangen, um Wache zu halten, aber Drakte sagte, ich solle in einiger Entfernung warten. Immerhin habe ich die Stimme des Fremden gehört, und die war wirklich einzigartig. Tief wie ein Brummen, aber irgendwie anders. Als würde jemand flüsternd schreien. Drakte wollte mir nicht verraten, wer der Mann war, aber später habe ich herausgefunden, daß dieser Tiger seinerzeit durch den Schlagstock eines Kriechers am Kehlkopf verletzt wurde.«
    Als sie den Pfad nach Osten erreichten, saß Dremu auf seiner Decke. Er sagte nichts und überschüttete sie auch nicht mit Schadenfreude, sondern zurrte lediglich die Decke an seinem Sattel fest und trabte voraus.
    Am späten Nachmittag kamen einige Häuser, Ställe und verwilderte Felder in Sicht, ein kleines rongpa-Dorf am Anfang der schmalen Schotter straße, der die Karawane nun mehrere Kilometer folgen mußte, um den nächsten Paß nach Norden zu erreichen. Sowohl die Tibeter als auch die Tiere schienen ihre Schritte zu beschleunigen, als hofften sie auf eine warme Mahlzeit und womöglich einen Unterschlupf vor dem stetigen eiskalten Wind, der inzwischen wehte.
    Doch das Dorf war verlassen. Auf Tischen vor zwei der Häuser standen Schalen mit kaltem Tee und tsampa. Auf dem Pfad lagen zwei Decken, übersät mit zerbrochenen Walnußschalen. Vor der Tür eines der anderen altersschwachen Gebäude schwelte ein kleines

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