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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Feuer aus Schafdung, das jemand ursprünglich mit dem primitiven ledernen Blasebalg angefacht hatte, der daneben lag. An einem Pfahl war ein großer Mastiff angebunden und bellte laut - nicht in Richtung der Fremden, die ins Dorf kamen, sondern mit Blick auf die ostwärts führende Straße.
    Beunruhigt ließ Lhandro die Karawane halten und befahl gleich darauf, sie sollten auf dem Pfad zurückweichen und hinter dem soeben erst überquerten Hügel Deckung suchen, bis er und Shan das leere Dorf erkundet haben würden. Beim ersten Haus blieb Lhandro stehen und rief einen Gruß. Als niemand antwortete, trat er zur offenen Tür hinein. Er verschwand im dunklen Innern, kehrte wenig später mit grimmiger Miene zurück und starrte einen kleinen quadratischen Rahmen aus Zweigen an, der am Türsturz hing. Das ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter hohe Gebilde war mit vielfarbigen Schnüren bespannt und drehte sich im Wind. Es handelte sich um eine Geisterfalle und sollte vor den bösen Teufeln schützen, die sich zu nahe an das Haus heranwagten.
    »Niemand«, sagte Lhandro und musterte erst die anderen Gebäude, dann die umliegenden Hügel. »Nicht einmal dieser verdammte Dremu«, fügte er hinzu, als würde er dem golok nun vorwerfen, das Dorf entvölkert zu haben. »Das könnten Banditen gewesen sein. Sie entführen die Leute und erpressen Lösegeld.«
    Die Schritte, die sich auf einmal von hinten näherten, ließen Lhandro geduckt herumfahren, als rechne er mit einem Angriff. Zwischen zwei Häusern kam Lokesh zum Vorschein, dicht gefolgt von Nyma. Der alte Tibeter ging wortlos und mit neugierig geneigtem Kopf an ihnen vorbei.
    »Das waren keine Banditen! Begreift ihr es denn nicht?« rief die junge Nonne. »Die Kriecher machen so etwas manchmal. Falls sie jemanden der Subversion verdächtigen, nehmen sie einfach all seine Nachbarn zum Verhör fest und behalten die Leute in Gewahrsam. Ihre Tiere verhungern unterdessen, und die Ernten verderben. Irgendwann fällt dann jemandem etwas Belastendes zu dem Verdächtigen ein, ob nun wahr oder nicht.«
    Vorsichtig folgten sie zu viert dem Pfad, der aus dem Dorf hinausführte, und hielten sich dabei möglichst im Schatten. Hinter einem großen Felsen stießen sie auf einen verlassenen roten Geländewagen, der am Rand der Schotter straße geparkt stand. Ein solches Fahrzeug konnten sich nur wenige Tibeter leisten; es war ein verbreiteter Dienstwagentyp der Regierungsbehörden. Während sie noch nervös das Auto anstarrten, hallte ein Schrei durch die Luft. Shan zögerte, weil er nicht sicher war, woher das Geräusch stammte, doch dann sah er Lokesh auf einen Spalt in der hohen Felswand zulaufen, welche die Straße säumte. Shan folgte ihm hastig, als ein weiterer lauter Schrei die Stille durchdrang. Nyma und Lhandro schlossen sich ihnen an.
    Der kurze Durchgang öffnete sich zu einer grasbedeckten Senke. Sie hatten die Dörfler gefunden, und Shan erkannte, daß es sich nicht um Angst- oder Schmerzens- schreie handelte, sondern um aufgeregten Jubel. Fast fünfzig Leute saßen auf dem Hang oder standen am Rand des flachen Bodens der Mulde. Jemand kreischte überrascht, ein anderer lachte. Das galt weder Shan noch seinen Begleitern, denn niemand schien ihre Ankunft bemerkt zu haben. Die Bewohner des Dorfes sahen einem Mann zu, der rittlings auf einem großen wütenden Yak saß, dabei eine Hand in die Luft streckte und sich mit der anderen an einem Lederriemen festhielt, den man dem Tier um den Leib gebunden hatte. Der Yak sträubte und wand sich und hob in diesem Moment mit lautem Brüllen seinen breiten Kopf, so daß einige Kinder hinter den Erwachsenen Schutz suchten. Es war ein prachtvolles Tier und stammte vermutlich von den drongs ab, den mächtigen wilden Yaks, die noch immer die tibetische Landschaft durchstreiften.
    Noch viel mehr als der tobende Yak verblüffte Shan der Anblick des Reiters. Der Mann war hochgewachsen und schlank; sein strohblondes Haar hing ihm bis über die Ohren. Er schien mit dem Yak zu sprechen, denn nach jedem Brüllen des Tiers stieß er merkwürdige Silben aus. »Ya! Ya!« rief er aus keinem ersichtlichen Grund, dann »Yi ha!« und »Yo!«
    »Hör doch nur«, sagte Lhandro zu Shan. »Er muß furchtbare Schmerzen leiden. Wer hat den goserpa bloß dazu gezwungen?« fragte er besorgt, als handle es sich um eine Art Folter.
    »Goserpa.«
    Nyma wiederholte das Wort zweimal und starrte den Fremden an. Das bedeutete »Gelbkopf« und war einer der Begriffe, den

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