Das tibetische Orakel
die Tibeter für Westler verwendeten. Shan wußte, daß ein Westler für die meisten Menschen dieser Region ein ebenso seltenes Ereignis darstellen mußte wie die Begegnung mit einem der fast ausgestorbenen wilden Yaks.
Plötzlich wurde der Mann von dem wütenden Tier emporgeschleudert, so daß seine Beine horizontal in der Luft hingen. Doch irgendwie hielt er auch weiterhin den Riemen umklammert und fand wieder Halt auf dem Rücken des Yaks. In der ersten Zuschauerreihe standen drei kräftige Männer mit Seilen und verfolgten aufmerksam den Ritt, als würden sie versuchen wollen, das Tier einzufangen. Auf der anderen Seite der Freifläche sah Shan neben einem großen Felsen einen kleinen blassen Tibeter mit dunklem Anzug, weißem Hemd und Krawatte, der alle paar Sekunden in Deckung flüchtete, dann langsam wieder zum Vorschein kam und den Reiter entsetzt beobachtete. Hin und wieder hob er zaghaft eine Hand, um die Aufmerksamkeit des Fremden zu erregen.
Plötzlich krümmte der Yak den Rücken, stieg hoch empor und warf den Reiter ab. Der Westler flog in hohem Bogen durch die Luft und ruderte hektisch mit Armen und Beinen. Im Publikum herrschte schlagartig Stille, und alle sahen mit an, wie der Fremde durch die Luft segelte und mit lautem Ächzen auf dem Boden aufschlug. Dort lag er dann flach auf dem Rücken und regte sich nicht, während die drei Männer mit den Seilen sofort den Yak umringten. Der kleine Anzugträger zog eine Brille aus der Tasche und trat langsam vor, um eine schwarze Mütze aufzuheben. Shan wollte sich zögernd dem leblosen Westler nähern, als Lokesh bereits an ihm vorbeirannte.
Der Fremde begann zu zucken, preßte die Hände an den Bauch und rang nach Luft. Währenddessen schrie der Tibeter in dem Anzug wütend die drei Männer mit den Seilen an und fuchtelte mit der schwarzen Mütze in ihre Richtung. »Die Öffentliche Sicherheit wird hiervon erfahren!« kreischte er auf chinesisch. »Ihr Narren! Es werden Leute aus Lhasa kommen! Ihr werdet sehen, was passiert, wenn ein Ausländer.«
Er hielt mitten im Satz inne und starrte den blonden Mann an. Auch Lokesh blieb stehen, und die Sorge auf seinem Gesicht verflog. Der Westler lachte.
»Yeah! O Mama!« rief der Mann auf englisch und reckte wie jubelnd die Fäuste in die Luft. Dann setzte er sich auf und mußte immer noch so sehr lachen, daß er sich erneut mit einer Hand den Bauch hielt.
Der größte der Tibeter mit den Seilen, ein stämmiger Mann, dem drei Schneidezähne fehlten, kam unschlüssig näher und half dem Westler auf die Beine. Der Fremde umarmte ihn sogleich und musterte dann die anderen beiden Helfer, die den Yak mittlerweile mit zwei Seilen um den dicken Hals gesichert hatten. Danach strich der Westler sich das lange Haar zurück und grinste die Zuschauer an.
Die Dörfler lachten inzwischen, und einige von ihnen wiesen spöttisch auf den Mann in dem Anzug, der mürrisch dastand, die Arme in die Seiten gestemmt hatte und den Westler anstarrte, als sei er zutiefst enttäuscht, daß dieser nicht gestorben war. Der Blonde sah kurz Shan an, neigte neugierig den Kopf, schob sich noch eine Strähne aus der Stirn und schaute zu dem Anzugträger, dem Tibeter, der seine Landsleute auf chinesisch angeschrien hatte. Der Westler hielt kurz inne und runzelte die Stirn, als wolle er den nervösen kleinen Mann ansprechen. Dann jedoch wanderte sein Blick zu dem Yak, und die Freude kehrte auf sein Antlitz zurück. Seltsamerweise erwiderte das Tier diesen Blick; in seinen großen braunen Augen schien nicht nur urwüchsige Kraft zu liegen, sondern auch eine Frage. Der Westler stellte sich vor den Yak hin, und noch bevor das Tier reagieren konnte, streckte er die Hände aus, packte dessen Kopf und drückte ihm einen Kuß auf die feuchte Schnauze. Die Dorfbewohner brachen in lauten Jubel aus. Der Tibeter in dem Anzug senkte den Kopf und schlug eine Hand vor das Gesicht.
»Wieviel würde dieser König der Rinder kosten?« fragte der Westler die drei Männer in akzentfreiem Tibetisch.
Die Männer sahen ihn verwirrt an, nur um sich im nächsten Moment tuschelnd zu beraten. »Tausend Renminbi«, verkündete der Große ernst. Das Tier stellte eindeutig einen wertvollen Besitz dar, und der Preis war vermutlich mehr, als die meisten der Dörfler in einem Jahr verdienten, wenngleich er umgerechnet nur rund hundert amerikanische Dollar betrug.
Zur Verwunderung der drei Männer zog der Fremde eine Brieftasche hervor und zählte die geforderte Summe ab.
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