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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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groß wie eine Postkarte war. Er nahm das Bild mit beiden Händen und reichte es dem Mädchen wie ein Geschenk. Die Kleine nahm es mit großen Augen an, schrie vor lauter Freude auf und tanzte auf der Stelle. Alle in der Nähe drängten sich um sie und brachen ebenfalls in Jubel aus. Sie wirkten genauso aufgeregt wie bei der Freilassung des Yaks.
    Es handelte sich um ein Foto des Dalai Lama, erkannte Shan. Früher hatte schon allein der Besitz eines solchen Bildes eine Haftstrafe nach sich gezogen, und auch heute noch waren diese Aufnahmen offiziell verboten und wurden von den Behörden routinemäßig beschlagnahmt. Während der Unterdrückungskampagnen, die regelmäßig über das Land hereinbrachen, wurden die Fotos stets als Beweis der politischen Unzuverlässigkeit angeführt. Für die Tibeter hingegen waren die Bilder sehr wertvoll. Shan hatte sie häufig auf den Altären gesehen, die in den meisten dropka-Zelten standen.
    Er beobachtete, wie der seltsame Amerikaner das Mädchen hochhob, das mittlerweile nach seiner Mutter rief. Shan hatte solche Ausländer zuvor schon getroffen, Männer und Frauen, die Tibet auf der Suche nach Abenteuern oder Erleuchtung durchstreiften. Lokesh nannte sie Vagabunden, als würden sie ziellos umherirren. Shan hielt sich immer fern von ihnen, denn sie hatten nur selten gültige Reisepapiere und erregten ausnahmslos das Interesse der öffentlichen Sicherheit oder der Armeepatrouillen. Die eigentliche Gefahr bestand nicht für den Fremden, der bei seiner Ergreifung einfach nur abgeschoben wurde, sondern für die Einheimischen in seiner Begleitung, die man in Gewahrsam nahm und verhörte, weil der Kontakt zu Ausländern auf riskante Neigungen schließen ließ.
    Das Mädchen deutete auf den Durchgang zur Straße, als habe sie beschlossen, daß ihre Mutter dorthin gegangen sei, und entwand sich Winslows Griff. Der Amerikaner schaute ihr lächelnd hinterher. »Sie stammen nicht aus dem Ort«, sagte er im Plauderton zu Lhandro und sah weiterhin grinsend zu dem fernen Yak, der oben auf dem Kamm stand. Im selben Moment registrierte Shan eine Bewegung hoch auf dem gegenüberliegenden Hang. Ein Mann auf einem grauen Pferd.
    »Wir sind mit einer Karawane gekommen«, erwiderte Lhandro.
    Bei dem Reiter schien es sich um Dremu zu handeln, erkannte Shan, und der golok winkte ihnen offenbar zu.
    Der Kopf des Amerikaners ruckte zu dem rongpa herum. »Aus dem Norden? Oder Westen? Nicht auf der Straße?«
    Er sah Shan an. »Sie alle?«
    Als Lhandro nickte, zog Winslow eilig eine Landkarte aus der Gesäßtasche. »Zeigen Sie es mir«, drängte er. »Sagen Sie mir, wen Sie gesehen haben und wo genau Sie gewesen sind. Ich muß wissen, ob.«
    Ein Angstschrei gellte auf. Das kleine Mädchen kam zurück durch den Felsspalt gerannt und rief panisch nach seiner Mutter. In der Hand hielt sie ein gezacktes Stück Papier, auf dem Mund und Kinn eines lächelnden Mannes zu sehen waren. Jemand hatte die obere Hälfte ihres kostbaren Fotos abgerissen. Shan sah wieder den Hang hinauf zu Dremu, der stehengeblieben und abgestiegen war. Der golok winkte ihnen nicht etwa zu, begriff Shan mit jähem Entsetzen, sondern versuchte hektisch, sie zu warnen.
    Doch im nächsten Moment lief Nyma auf die Lücke zwischen den Felsen zu, unmittelbar gefolgt von Lhandro. Lokesh zog an Shans Ärmel, als wolle er ihn zurückhalten. »Geh«, drängte der alte Tibeter und schob Shan in Dremus Richtung. »Geh zu dem golok.«
    Die Leute stoben auseinander und hasteten die Hänge empor. Als Shan sich umdrehte, war Lokesh verschwunden. Ohne auch nur darüber nachzudenken, eilte er in den Durchgang und weiter zur Straße.
    Er trat ins helle Sonnenlicht hinaus und sah jemanden auf dem Kies liegen. Es war Lhandro, der sich stöhnend den Kopf hielt. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Nyma kniete neben ihm, und Lokesh stand ganz in der Nähe, dahinter zwei große Chinesen in den grünen Uniformen der Volksbefreiungsarmee, die ihm die Arme auf den Rücken gedreht hatten. Ein Dutzend weiterer Soldaten wartete im Halbkreis vor dem Durchgang im Fels, um jeden zu ergreifen, der sich dort blicken ließ. Im Hintergrund standen zwei graue Truppentransporter auf der Straße geparkt, die auf der Fahrertür jeweils das Abbild eines grimmigen Schneeleoparden trugen. Zwischen den schweren Fahrzeugen saß auf einem metallenen Klappstuhl ein Offizier und verfolgte zufrieden, wie die Falle sich füllte. In seinem Mundwinkel hing eine Zigarette. Shan sah,

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