Das tibetische Orakel
Danach ließ er den Blick über die anderen Dorfbewohner schweifen, ging zu einer jungen Frau und bat sie mit lauter Stimme, ihm eines der beiden roten Bänder zu verkaufen, mit denen sie ihre Zöpfe zusammengebunden hatte. Sie errötete und nickte dann aufgeregt. Er reichte ihr eine Handvoll Münzen, nahm das Band mit leichter Verbeugung entgegen und knotete es fest an ein Büschel in der Mähne des Yaks. Mit der Leichtigkeit eines Mannes, der die Arbeit mit Tieren gewohnt war, befreite er den Yak von den Seilen um seinen Hals und verpaßte ihm mit einem Seilende einen kräftigen Klaps auf die Flanke. Das Tier schoß davon, lief quer durch die überraschte Menge und galoppierte wie ein junger Hengst den Hang hinauf. Erst oben auf dem Kamm blieb es stehen, drehte sich um und schaute trotzig zu den stummen Dorfbewohnern hinunter, die auf einmal erneut in frenetischen Jubel ausbrachen. Der Westler hatte dem herrlichen Tier nicht nur die Freiheit geschenkt, sondern es mit dem Band außerdem als losgekauft gekennzeichnet, wodurch es geschützt war und die Götter geehrt wurden. Normalerweise rettete man ein Tier so vor dem Schlachter und verschaffte ihm ein langes Leben. Das Band an dem Yak bedeutete, daß er keine Arbeit mehr verrichten und den Menschen nicht mehr dienen mußte. Wer dagegen verstieß, beleidigte die Götter.
Die Hälfte der Dörfler versammelte sich aufgeregt um die drei Männer, die auf den unerwarteten Reichtum in ihren Händen starrten. Viele der anderen liefen zu dem Ausländer, einige nur, um ihn zu berühren, manche, um ihm für seinen Akt der Anerkennung zu danken, und andere, die seinen Ritt auf dem Yak rühmten. Wiederum andere hielten sich zurück und ließen betend ihre malas durch die Finger gleiten, während sie den Fremden aus großen, ehrfürchtigen Augen betrachteten.
Nach einer Weile machte der Westler einen vorsichtigen Schritt auf Shan zu.
»Falls Sie sich weh getan haben, können wir uns um Ihre Verletzungen kümmern«, bot Shan an.
Der Mann lächelte belustigt, nahm Shan und Lokesh erneut mit geneigtem Kopf und neugierigem Blick in Augenschein und schaute abermals zu dem Yak, der sie immer noch von oben beäugte. »Zu Hause in Oklahoma könnte ich mit einem solchen Tier reich werden.«
Sein Tibetisch war makellos, und seine blauen Augen funkelten.
»Ich verstehe nicht, was Sie da eben gemacht haben«, sagte Shan.
Der Mann lächelte erneut, sah nacheinander Nyma, Lokesh und Lhandro an und nickte jedem von ihnen zu, während sie seinen Blick verwirrt erwiderten. »Es ist dieses Vergänglichkeitsding«, erklärte der Fremde und gab ihnen die Hand. »Shane Winslow«, sagte er jedesmal, nahm ihre Hände jeweils in die Rechte, bedeckte sie mit der Linken und schüttelte sie nicht, sondern drückte sie wie bei einer angedeuteten Umarmung, während die Neuankömmlinge ihm ihre Namen nannten, die er jeweils wiederholte.
»Warum sind Sie auf diesem Tier geritten?« versuchte Shan es noch mal.
Winslow fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Das habe ich doch schon gesagt. Es ist genau wie bei Ihrem c^od-Ritual, außer daß Cowboys es tun, indem sie Bullen reiten.«
Shan starrte den Mann erstaunt an. Gendun hatte oft mit ihm über dieses Ritual gesprochen. Es wurde für gewöhnlich nur gegen Ende der Mönchsausbildung durchgeführt; der Prüfling saß stundenlang und oft über Nacht allein am Ort eines Himmelsbegräbnisses, um die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz zu erfahren und zu verinnerlichen. Für die meisten war es eine überaus harte Probe, von der einige wirr stammelnd zurückkehrten.
»Cowboys?« fragte Nyma langsam. Winslow hatte den amerikanischen Begriff benutzt, für den es keine tibetische Entsprechung gab. »Was sind Cowboys?«
»Sie reiten meistens auf Pferden durch die Berge, halten nach Kühen Ausschau und singen dabei«, sagte Winslow und grinste schon wieder.
Nyma nickte, erst zögernd, dann ziemlich energisch, als sei ihr nun zweifelsfrei klargeworden, was es mit den Cowboys auf sich hatte. Shan erkannte, daß die Beschreibung des Amerikaners irgendwie nach einer Pilgerfahrt klang.
Zwischen Lokesh und Lhandro tauchte ein kleines Mädchen auf und streckte dem Amerikaner ein blaues Band entgegen. Winslow hockte sich neben sie und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Der Yak hat nur das eine Band gebraucht«, sagte er sanft. Dann öffnete er den Knopf seiner Hemdtasche und zog ein Foto daraus hervor, das auf dickem Papier gedruckt und etwa halb so
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