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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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besaß, wo er ordnungsgemäß aus der Haft entlassen worden war. Sobald man sich Shan vornahm, würde man auch auf seinem Arm die verräterische Tätowierung entdecken und mit den Computern der öffentlichen Sicherheit abgleichen. Danach galt Shan als entflohener Strafgefangener und war damit für solche Männer wie Frischfleisch, das man ausgehungerten Hunden vorwarf. Er kämpfte gegen die Versuchung an, sich zu den Hügeln jenseits des Dorfes umzuwenden, wo sich ein weiterer Flüchtling, einer ohne Zunge, versteckte.
    Der Mann auf dem Stuhl warf die Zigarette beiseite, stand auf, ging zu den beiden Soldaten, die die Papiere überprüften, und befahl ihnen ungehalten, damit aufzuhören. Dann ließ er den Blick über die wartenden Dorfbewohner schweifen und hielt kurz inne, um sich mit einem eleganten goldenen Feuerzeug die nächste Zigarette anzuzünden. Herrisch schritt er die Reihe ab, berührte einige der Wartenden an der Schulter und schickte sie mit nachlässiger Geste weg. Auf einmal trat eine Frau mittleren Alters einen Schritt vor und deutete auf Shan und seine drei Begleiter.
    »Die sind nicht aus unserem Dorf«, rief sie. »Bitte vergeßt nicht, wir haben die noch nie gesehen. Und geholfen haben wir ihnen auch nicht!«
    Shan seufzte. Er konnte es der Frau nicht verübeln. Bestimmt hatte sie solche Kontrollen schon häufiger erlebt und dabei von den Chinesen gelernt, daß es für sie und ihre Familie am besten war, die Aufmerksamkeit der Soldaten auf andere zu lenken. Ihm tat nur leid, wie sie sich später fühlen und wie die Nachbarn sie ansehen würden.
    Der Offizier blieb stehen und starrte Shan an, als würde er ihn erst jetzt bemerken. Dann nahm er die Zigarette aus dem Mund und blies eine Rauchwolke in Shans Richtung, bevor er sich wieder der Reihe widmete. Nach einer Minute war er fertig. Er hatte alle Frauen, Kinder und jüngeren Männer weggeschickt, so daß jeder der verbliebenen Männer nach Shans Schätzung mindestens dreißig Jahre alt war. Der Offizier schritt die Reihe ein weiteres Mal ab und ließ noch zwei Männer gehen.
    Sie waren zwar schon älter, aber mit rund einem Meter sechzig die beiden kleinsten aller Anwesenden.
    Auf ein Fingerschnippen des Offiziers hin machten sich nun wieder die zwei Soldaten an die Arbeit und überprüften die Papiere der sechs restlichen Männer, allerdings lauter und gröber als zuvor. Der Offizier lief unterdessen ungeduldig hin und her, rauchte mit drei tiefen Zügen seine Zigarette auf und zündete sich an ihrem Stummel die nächste an. Seine Leute standen vor dem fünften Mann in der Reihe, als er das Interesse verlor und in den Doppelkreis der Soldaten trat, die noch immer vor den Felsen Wache hielten. Das war keine Patrouille, erkannte Shan, sondern das, was die purbas einen Zugriffstrupp nannten. Sie suchten nach jemandem.
    »Die Frau hat gesagt, ihr seid nicht von hier«, stellte der Offizier gemächlich mit leiser Stimme fest und blies Shan Rauch ins Gesicht.
    Shan und Lokesh sahen zu Boden. Er fühlte sich seltsam entrückt, als würde er sich selbst aus der Ferne beobachten. Ein Teil von ihm hatte nie daran gezweifelt, daß er eines Tages ins Straflager zurückkehren würde. Der Yak war flink wie eine Antilope gelaufen. Shan dachte an den fröhlichen amerikanischen Vagabunden und hoffte, ihm sei die Flucht gelungen. Es war von vornherein aussichtslos gewesen, auch nur daran zu denken, Shan könnte helfen, das Tal zu retten. Nach weiteren hundert Jahren würde es den Tibetern vielleicht gelingen, einen wirklich tugendhaften Chinesen zu finden.
    Der Sergeant hielt etwas hoch, um die Aufmerksamkeit des Offiziers zu erregen, die abgerissene Hälfte des Dalai- Lama-Fotos. Dann drehte er das Bild um und zeigte seinem Vorgesetzten die Rückseite. Es war Teil dessen, was Soldaten immer taten, wenn sie solche Fotos sahen, eine der tausend Erscheinungsformen der Unterdrückung, die sie und die Kriecher verinnerlicht hatten. Bisweilen war auf die Rückseite solcher Bilder eine tibetische Flagge aufgedruckt, was dem Besitzer eine Verhaftung und Schlimmeres garantierte. Diese Rückseite war weiß.
    »Ich bin Oberst Lin von der 54. Gebirgsjägerbrigade«, verkündete der Offizier unversehens. Er sprach langsam und klang dabei merkwürdig erwartungsvoll. Sein Blick richtete sich auf die Dorfbewohner und kehrte dann wieder zu Shan und seinen Begleitern zurück. »Ich werde Fragen stellen. Ihr werdet antworten.«
    Shan sah dem Oberst ins Gesicht. Es war hart und

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