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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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daß der Mann auf einem Knie ein Klemmbrett liegen hatte und nun begann, etwas zu notieren, ganz beiläufig und guter Stimmung, wie ein Punktrichter bei einem Sportwettbewerb.
    Jemand packte grob Shans Arm, und er bemerkte auf einmal, daß man sein linkes Handgelenk an Lokeshs rechte Hand gefesselt hatte, und zwar nicht mit Handschellen, sondern mit einem dünnen Draht, dessen Enden fest verdreht wurden, so daß jede Bewegung schmerzte.
    Sie waren erneut Gefangene.

II. Asche
Kapitel 5
    Mehr als zwanzig Dorfbewohner standen mit trübseligen Mienen an der Felswand aufgereiht, hielten die Hände an die Nähte ihrer Hosenbeine gepreßt und warteten ab, während zwei Soldaten ihre Ausweise überprüften. Die Gesichter verrieten Shan, daß die Dörfler derartige Kontrollen gewohnt waren. Einige mußten ihre Wut unterdrücken, andere ihre Angst. Alle jedoch kämpften gegen die Empörung an, in ihrem eigenen Land wie Außenseiter behandelt zu werden. »Wo sind denn deine Papiere?« hatte Shan erst vor drei Monaten einen tibetischen Jugendlichen rufen gehört, als man ihn an einem Kontrollpunkt der öffentlichen Sicherheit überprüfen wollte. Die Kriecher hatten ihm sofort Fesseln angelegt, und eine Stunde später war der Junge abtransportiert worden.
    Die Dorfbewohner bewegten sich sehr langsam, wenn man sie aufforderte, die Ausweise hervorzuholen, und behielten dabei nicht den Sergeanten im Blick, der ihnen barsche Befehle erteilte, sondern den Soldaten schräg hinter ihm, der mit gesenktem Lauf und dem Finger am Abzug ein halbautomatisches Sturmgewehr, ein AK-47, hielt. Es ließ sich unmöglich voraussagen, was geschehen würde, wenn die Öffentliche Sicherheit oder die Armee an einem solchen Ort auftauchten. Tibeter mit gültigen Papieren wurden meistens wieder freigelassen, aber wenn die Patrouille mit einem bestimmten Auftrag unterwegs war und nicht nur routinemäßig nach Illegalen suchte, konnte jeder in Gewahrsam genommen werden. Manche Offiziere waren berüchtigt dafür, in politisch ruhigen Zeiten einfach unschuldige Tibeter zu verhaften und so lange einzusperren, bis sie irgendein Vergehen gestanden. »Jeder ist an irgendwas schuld«, hatte ein Vernehmungsbeamter einst zu Shan gesagt, »wir haben bloß nicht die Zeit, gegen alle zu ermitteln.«
    Nyma richtete Lhandro in eine sitzende Position auf. Das Blut lief an seiner linken Schläfe hinunter. Offensichtlich hatte man ihm dort einen Hieb versetzt, vermutlich mit einem Gewehrkolben. Die Nonne legte ihm wie eine schützende Mutter die Arme um die Schultern und sah mit feuchten Augen zu Shan. Auch ihr war klar, was eine solche Patrouille bedeuten konnte. Die Dorfbewohner würden vielleicht glimpflich davonkommen, doch Nyma, die versichert hatte, sie sei keine richtige Nonne, konnte gleichwohl im Gefängnis landen: Sie trug das entsprechende Gewand, ohne eine Lizenz des Büros für Religiöse Angelegenheiten zu besitzen.
    »Dieser Yak ist flink wie eine Antilope gelaufen«, sagte Lokesh leise gen Himmel gewandt. Ein Soldat in ihrer Nähe stieß ein Knurren aus und hob drohend den Kolben seiner Waffe, um Lokesh zum Verstummen zu bringen.
    Shan sah seinen alten Freund an. Wenigstens sei es ihnen vergönnt gewesen, den Amerikaner mit dem Yak zu sehen, meinte Lokesh. Es war ein Trick der Häftlinge, den sie beide während ihrer Jahre im Gulag häufig angewandt hatten. Man stellte sich ein Bild vor und ließ es das Bewußtsein ausfüllen, so daß Schmerz, Hunger und Angst davon verdrängt wurden. Shan wußte noch, wie er einmal auf der Ladefläche eines Gefangenentransporters von der Straßenbaustelle zurück ins Lager geschafft worden war. Da Frühstück und Mittagessen lediglich aus einer dünnen Wassersuppe mit Maismehl bestanden, hatten an jenem Tag mehrere alte Mönche Schwächeanfälle erlitten und waren daraufhin von den Wachen fortgezerrt und verprügelt worden. »Ich habe heute gesehen, wie eine Schneeflocke auf einem Schmetterling gelandet ist«, hatte einer der geschundenen Lamas während der Rückfahrt plötzlich gesagt und dafür von einem der Posten einen Stockhieb auf den Kopf kassiert. Als sie das Lager erreichten, hatten alle Insassen des Lasters heiter gelächelt und vor ihren inneren Augen nur noch das Bild des Schmetterlings gesehen.
    Zunächst würde man sie in ein Armeegefängnis verfrachten, und dann würde man ihn von Lokesh trennen. Das einzige Vergehen des alten Tibeters bestand darin, daß er keine Papiere für Reisen außerhalb Lhadrungs

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