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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Beute einzusammeln. Lin gab das Gewehr wieder zurück und wandte sich mit unverändert eisiger Miene abermals den Gefangenen zu.
    Lhandro hatte sich inzwischen auf den Knien aufgerichtet. Ihm tröpfelte immer noch Blut über die Wange. Als Nyma ihm beim Aufstehen helfen wollte, zerrte einer der Soldaten sie zurück. Sie sträubte sich, und er verpaßte ihr eine schallende Ohrfeige. Entsetzt verfolgte Shan, wie die Nonne zurückprallte und sich wehren wollte. Der Soldat packte sie an ihrer Halskette und schnürte ihr die Luft ab, bis die Kette riß und das große gau dem Mann in die Hand fiel. Er starrte das Amulett an und schleuderte es gegen die Felswand. Nyma ächzte und schien hinterherspringen zu wollen, doch dann erstarrte sie, als sei ihr plötzlich klargeworden, daß es besser war, keine unnötige Aufmerksamkeit auf das Medaillon zu lenken. Bei einer früheren Gelegenheit hatte sie Shan den darin verborgenen Schatz gezeigt, der über ihr Gebet wachte. Ein Foto des Dalai Lama mit der tibetischen Flagge auf der Rückseite.
    Lhandro kämpfte sich auf die Beine, griff in seine Hemdtasche und brachte mit zitternder Hand seine Papiere zum Vorschein.
    Lin war schneller als der Sergeant und nahm sie ihm ab. »Yapchi«, las er mit jähem Interesse und wiederholte den Ortsnamen bedeutungsvoll. Seine Augen blitzten auf, erst vor Wut, dann vor Zufriedenheit. Die Soldaten fingen an zu tuscheln, und einige richteten ihre Waffen auf Lhandro. »Es sind mehr als achtzig Kilometer bis zu deinen Feldern, Bauer«, stellte der Oberst fest und sah dann Nyma, Shan und Lokesh an. »Seid ihr alle aus Yapchi? Was wollt ihr hier? Warum seid ihr so weit weg?«
    Er schürzte die Lippen und enthüllte eine Reihe tabakgelber Zähne. Dann schien er innezuhalten, als wolle er den Moment auskosten. Seine Lider senkten sich. Diesen Gesichtsausdruck hatte Shan schon bei vielen solcher Männer gesehen, eine beiläufige, beharrliche Grausamkeit, verborgen hinter gelangweilter Miene.
    »Es ist noch zu früh, um die Gerste zu ernten«, brachte Lhandro matt hervor.
    Lin gab dem Sergeanten einen Wink, woraufhin dieser zum Führerhaus des ersten Lasters lief und eifrig mit einem ungefähr dreißig Zentimeter langen Metallgegenstand zurückkehrte. »Wo sind eure Taschen? Euer Gepäck? Ich muß es sehen!«
    Er packte Lokesh fest am Arm. »Seid ihr in Lhasa gewesen?«
    Der Sergeant schlug die Absätze zusammen und hielt den Gegenstand Lin entgegen. Shan spürte einen Eisklumpen im Magen. Es war der amerikanische Lieblingsimport der öffentlichen Sicherheit, ein elektrischer Viehtreiber.
    Auch Nyma erkannte das Folterwerkzeug. Sie stieß ein schrilles Jammern aus und stellte sich vor Lhandro. Shan starrte den Oberst verwirrt an. Der Viehtreiber wurde von den Kriechern benutzt, selten von der Armee. Er gehörte in eine Verhörzelle, nicht auf eine entlegene Straße am Rand der Changtang. Der Oberst war zu allem entschlossen, um seinen Gefangenen die verlangten Informationen zu entreißen.
    Lin warf Nyma einen belustigten Blick zu und nahm den Viehtreiber. Da meldete sich zwischen den Felsen eine laute freche Stimme.
    »Yo, General, Euer Majestät! Meine Freunde und ich haben ein friedliches Picknick veranstaltet. Die Pfadfinder waren nicht eingeladen.«
    Shan wandte den Kopf und sah den Amerikaner im Durchgang stehen. Er sprach Mandarin. Sein Mund war zu einem Grinsen verzogen, aber sein Blick blieb kühl und auf den Oberst gerichtet.
    Lin schürzte verächtlich die Lippen und ging auf den Amerikaner zu. Über einer Schulter trug Winslow einen grünen Nylonrucksack, und in der anderen Hand hielt er eine Wasserflasche, aus der er nun lässig und unbekümmert trank, während mehrere Soldaten ihn umringten.
    »Sie haben einen ernsten Fehler begangen«, knurrte Oberst Lin und steckte dabei Lhandros Papiere ein.
    »Kann schon sein«, stimmte Winslow ihm auf englisch zu und schob seine freie Hand in eine Tasche seines Rucksacks. Einer der Soldaten hob den Gewehrlauf. Der Amerikaner holte eine dicke Karotte hervor, richtete sie kurz wie eine Waffe auf den Soldaten, steckte sie in den Mund und biß geräuschvoll das Ende ab. Einige der freigelassenen Dorfbewohner, die von jenseits der Lastwagen das Geschehen verfolgten, lachten auf.
    »Sie haben ja keine Ahnung«, sagte Lin frostig. Auf ein Zeichen von ihm sprangen zwei seiner Männer vor und packten die Arme des Amerikaners. Der Rucksack und die Wasserflasche fielen zu Boden. Die Karotte flog durch die Luft und

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