Das tibetische Orakel
vermißt.«
»Wir haben keine Amerikaner gesehen«, warf Lhandro ein, der neben Shan stand und ihn warnend ansah. »Vielen Dank für die Hilfe. Wir werden nach der Frau Ausschau halten.«
Er drückte Shans Arm, als wolle er ihn zur Eile mahnen.
Der Amerikaner hielt inne und musterte die beiden Männer. »Ihr Ziel liegt im Norden«, sagte er mit einem nachdenklichen Blick in die entsprechende Richtung. »Aber Sie sind auf die Straße nach Osten eingebogen.«
Lhandro ging los und winkte Shan, ihm zu folgen. »Vielen Dank«, sagte er noch einmal.
Winslow grinste, hob kapitulierend beide Hände, drehte um und stieg in den Wagen. Der nervöse kleine Mann legte den Gang ein und fuhr mit hoher Geschwindigkeit davon, weg von dem Dorf und in Richtung der nördlichen Fernstraße nach Lhasa. Als Shan dem Fahrzeug hinterhersah, strich ein Tier an seinen Knien vorbei, und er senkte den Kopf. Der Widder mit dem rotäugigen Beutel stand neben ihm und blickte verängstigt zu ihm auf.
Jeder Beteiligte der Karawane, ob der stumme Tenzin, Anya, die Schafe oder die Hunde, schien es an jenem Nachmittag besonders eilig zu haben. Sie gingen schnell, liefen beinahe und hielten nicht an, um zu essen oder zu trinken. Nach einer Stunde blieb Lhandro stehen, lud eines der Pferde ab und verteilte das Gepäck auf die anderen vier Tiere, während er nervös die Straße im Auge behielt. Mit besorgter Miene ließ er einen der Männer aus Yapchi aufsitzen und als Kundschafter in die umliegenden Hügel vorausreiten. Dremu hatte sich seit der Begegnung mit der Armee noch nicht wieder blicken lassen.
Nach ungefähr fünfzehn Kilometern blieben ihnen noch zwei Stunden Tageslicht. Lhandro gab keine Ruhe, bis sie auf den Pfad nach Norden eingebogen und hinter einer Kehre aus dem Sichtbereich der Straße verschwunden waren. Während die anderen rasteten, nahmen er und Shan den steilen holprigen Weg in Augenschein und suchten nach Anzeichen für Soldaten. Der Reiter wurde in die vorausliegenden Hügel geschickt. Seit dem Dorf schien alles anders zu sein. Oberst Lin, dem man das Auge gestohlen hatte, wußte nun von ihrer kleinen Reisegruppe aus Yapchi. Er wußte, daß Lokesh in einem lao-gai --Lager gesessen hatte. Nur dank des Amerikaners befanden seine Gefangenen sich wieder auf freiem Fuß. Doch Lin würde nicht aufgeben, und seine Soldaten waren dafür ausgebildet, in der zerklüfteten Gebirgslandschaft Hinterhalte zu legen. Solche Männer konnten dem Kundschafter der Karawane mit Leichtigkeit ausweichen oder ihn zu der Annahme verleiten, die Gegend sei sicher.
»Der Oberst kennt unsere Route nicht«, sagte Shan zu Lhandro. »Und er weiß nichts von den Schafen.«
Während der letzten Stunden schien Lhandro sich von einem lebhaften rongpa , in einen Mann verwandelt zu haben, auf dessen Schultern große Furcht lastete. Der Oberst hatte seine Papiere mitgenommen und herausgefunden, daß er aus Yapchi stammte. Lhandro hatte die Fußfesseln gespürt und ein paar schreckliche Minuten lang zweifellos geglaubt, er würde den Rest seiner Tage in einem chinesischen Gefängnis verbringen und alles verlieren, auch den chenyi-Stein.
»Ich hätte Anya nicht mitnehmen dürfen«, sagte Lhandro. »Wären es doch nur ich und die älteren Männer gewesen! Und wir hätten Nyma nicht mit hineinziehen sollen. Sie möchte so gern eine Nonne sein. Sie muß eine Nonne sein. Das hier ist keine Arbeit für eine Nonne. Einige von uns würden mit Freuden.«
»Ich glaube nicht, daß Anya oder Nyma freiwillig auf diese Reise verzichtet hätten«, unterbrach Shan ihn.
Lhandro lächelte matt, stieß dann einen schrillen Pfiff aus und lief mit langen entschlossenen Schritten den Pfad hinauf. Zunächst folgten ihm nur die Hunde, doch er rief nicht, er drehte sich nicht um, und er winkte die anderen nicht zu sich. Der größere der beiden Mastiffs blieb nach dreißig Metern stehen, wandte sich um und bellte einmal. Die Schafe hoben die müden Köpfe und machten sich auf den Weg. Anya stand auf und half Lokesh auf die Beine. Dann gingen sie Hand in Hand neben den Schafen einher, und Anya stimmte eines ihrer Lieder an. Langsam und ächzend streckten auch die restlichen Reisenden ihre müden Glieder, erhoben sich und folgten den anderen.
Nach anderthalb Kilometern wartete Lhandro, bis Shan zu ihm aufgeschlossen hatte, und deutete nach vorn. Shan schirmte mit einer Hand seine Augen ab und sah in zweihundert Metern Entfernung ihren Kundschafter, der abgestiegen war, in ihre
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