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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Richtung blickte und wie mit einer Geste des Bedauerns beide Hände hob. Lhandro und Shan liefen los.
    Als sie näher kamen, verschwand der Mann hinter einem Felsvorsprung. Lhandro blieb stehen und führte Shan seitlich um die Rückseite des Vorsprungs herum. Sie spähten vorsichtig um die Ecke und sahen den Rücken eines großen Mannes mit einer leuchtendroten Nylonjacke und einer schwarzen Mütze, der vor einem kleinen Metallgestell saß, aus dem zischend eine blaue Flamme züngelte. Ihr Kundschafter hockte neben dem Mann und trank aus einem dampfenden Metallbecher. Als Shan sich weiter vorwagte, drehte der Mann mit der roten Jacke sich um.
    »Ich hab nur zwei Tassen«, erklärte Winslow und streckte Shan einen weiteren Metallbecher entgegen. »Sie sind herzlich eingeladen. Keine Butter, kein Salz. Bloß guter chinesischer Tee.«
    Shan nahm den Becher und sog einen Moment lang den Duft der grünen Blätter ein. Er sah, daß die anderen ihn anstarrten, und reichte das Getränk verlegen an Lhandro weiter. Dann blinzelte er, denn vor seinem inneren Auge erhob sich ein verschwommenes Bild: seine Mutter, die neben ihm saß und geduldig eine dampfende Porzellankanne mit frisch aufgebrühtem grünem Tee beobachtete. Auf der Kanne war ein Boot auf einem Fluß abgebildet, an dessen Ufer Weidenbäume standen. So meldete sich heutzutage bisweilen sein Gedächtnis, nachdem die Kriecher ihn elektrischem Strom und chemischen Präparaten ausgesetzt hatten. Seine Jugend lag am Ende eines langen dunklen Korridors, in dem sich durch zufällige und unvermutete Sinneseindrücke manchmal eine der Türen öffnete.
    »Ich konnte es mir leicht ausrechnen«, hörte er Winslow sagen. »Sie sind vom See aus erst nach Norden und dann plötzlich nach Osten zur Straße gezogen. Falls Sie schon die ganze Zeit nach Osten gewollt hätten, wären Sie bereits am See auf den entsprechenden Pfad eingebogen. Demnach war ihr Weg nach Norden unerwartet versperrt. Ich schätze, der Paß, den Sie überqueren wollten, wird durch eine Lawine oder einen Erdrutsch blockiert. Wenn Sie also auf die Straße ausgewichen sind, dann nur, um den nächsten Paß zu erreichen.«
    Er deutete auf die hohen Gipfel im Norden. »Da oben. Das ist das Tanggula-Gebirge, ein Ausläufer des Kunlun.«
    »Ich verstehe nicht ganz«, sagte Shan.
    »Meine Regierung wird eine Transportgebühr entrichten, falls Sie das wünschen«, sagte Winslow und grinste, als er Shans verwirrte Miene sah. »Ich komme mit Ihnen.«
    Lhandro starrte den Amerikaner ausdruckslos an und bat dann den Kundschafter, dafür zu sorgen, daß die Karawane in Bewegung blieb.
    »Sie wissen doch gar nicht, wohin wir wollen«, wandte Shan ein.
    »Doch, ich weiß es. Nach Norden. Genau in meine Richtung.«
    »Um nach der vermißten Frau zu suchen«, sagte Shan.
    »Es heißt, sie sei tot«, sagte Winslow und ließ die Worte wie einen unvollendeten Satz in der Luft hängen.
    Die anderen verstummten, und Shan wich einen Schritt zurück, um den Amerikaner genauer zu betrachten. Lhandro zuckte die Achseln, als wolle er damit sagen, er wisse nichts von toten Westlern.
    »Er hat uns vor diesem Oberst gerettet«, sagte Lhandro nach langem Schweigen zu Shan.
    »Mit einem Stück Papier«, erinnerte Shan sich. »Dürfte ich es noch mal sehen?«
    Der Amerikaner musterte ihn kühl, zog dann den Reißverschluß der Brusttasche seiner Nylonjacke auf und nahm den Paß heraus. Shan blätterte das Dokument durch und wußte nicht, wonach er eigentlich suchte. Benjamin Shane Winslow, stand dort geschrieben, mit einer Adresse im Bundesstaat Oklahoma. Der Paß enthielt mehr als zwanzig Einreisestempel der Volksrepublik China sowie zahlreiche andere für Länder in Südamerika und Afrika.
    Winslow nahm von Lhandro den leeren Becher entgegen und füllte ihn aus der Kanne auf seinem kleinen Kocher nach. »Wie würden Sie einen gefälschten Diplomatenpaß denn überhaupt erkennen wollen, tangzhou?«
    Tangzhou. Das hieß Genosse. Der Amerikaner wollte sich über ihn lustig machen, vermutete Shan. Womöglich erging es so jedem Chinesen, den er traf.
    Shan gab ihm dem Paß zurück. »Ich habe in meinem Leben schon einige Diplomaten kennengelernt, Mr. Winslow. Keiner von denen war auch nur annähernd so wie Sie. Und ich heiße Shan, nicht Genosse.«
    Winslow wühlte übertrieben in seinem Rucksack herum und blickte dann auf. »Verdammt. Da habe ich doch glatt meine schwarze Krawatte und die Lackschuhe vergessen«, verkündete er mit gespieltem

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