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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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einem Lagerplatz gefunden«, berichtete der golok. »Außerdem jede Menge Fußspuren von neuen und teuren Stiefeln. Sonst nichts. Sie waren ungefähr eine Woche alt.«
    Es handelte sich um drei Konserven: Pfirsiche, Schweinefleisch und Mais. Keinesfalls typisch tibetische Kost. Die Etiketten von Schweinefleisch und Mais waren englisch beschriftet, das der Pfirsiche chinesisch. In einer der Dosen lag die leere Folie eines jener Proteinriegel, die sie in der Senke entdeckt hatten.
    »Wie weit ist es noch bis zum Tal von Yapchi?« fragte Shan.
    »Knapp fünfundzwanzig Kilometer«, erwiderte Dremu.
    »Aber wieso sollten die Amerikaner sich dermaßen weit von ihrem Ölprojekt entfernen?« überlegte Shan laut und schaute zu dem Berggrat über ihnen, der die Ebene im Norden begrenzte. »Was liegt auf der anderen Seite?«
    »Nichts. Ein Fluß. Steile Schluchten, in denen nur Ziegen noch Tritt finden.«
    Shan musterte den golok. »Auf wen bist du so wütend gewesen? War es wegen dieses Lärms?«
    Abgesehen von der Tatsache, daß die purbas Dremu um Hilfe gebeten hatten, wußte Shan nach wie vor sehr wenig über den aufbrausenden, mürrischen Mann.
    »Das würdest du nicht verstehen«, antwortete der golok nach langem Schweigen.
    »Ich glaube, daß dieses Geräusch dich geärgert hat. Dieser Donner.«
    »Donner?« rief Dremu. »Du glaubst, das war Donner? Ohne eine Wolke am Himmel? Es war dieser verfluchte Berg Yapchi.«
    Er stand auf und schwang sein Messer erneut in Richtung des schneebedeckten Gipfels. »Es ist der übelste Berg der Welt. So etwas wie den gibt es nicht noch mal. Manche behaupten, es läge ein Schatz in ihm verborgen, doch ich sage, er steckt voller Dämonen.«
    Er wirkte wie ein Krieger im Angesicht der Schlacht.
    Shan betrachtete den fernen Horizont. Dieser Berg und das dahinter gelegene Tal waren ihr Ziel, die Heimat der chenyi-Gottheit.
    »Sie reden, als wäre der Berg ein lebendiges Wesen«, sagte Winslow verunsichert.
    Dremu zuckte zusammen und verdrehte Shan gegenüber die Augen, als bitte er darum, von Ausländern verschont zu bleiben, die nichts über die Berggötter wußten. Dann drehte er sich um und ging den Pfad hinunter.
    »Der Mann, mit dem du eine Vereinbarung getroffen hast, ist tot«, sagte Shan zu seinem Rücken. »Du wurdest bezahlt. Es ist jetzt nicht mehr weit. Den Rest des Wegs können Lhandro und Nyma mich führen.«
    Der golok wandte sich langsam um. Er sah wieder zornig aus. Dann jedoch legte sich ein seltsam melancholischer Ausdruck auf sein Gesicht.
    »Ich besitze kaum etwas von Wert«, sagte Shan und mußte gegen die Versuchung ankämpfen, die elfenbeinerne Gebetskette in seiner Tasche zu berühren. »Dieses alte Fernglas ist mein kostbarstes Eigentum. Aber du kannst es haben und dann weiterreiten. Verrat mir nur eines. Warum bist du wütend auf diesen Berg?«
    Dremu ging zum Rand des Vorsprungs, auf dem sie standen, und sah den Berg an, der den nördlichen Horizont dominierte. »Ich habe dort mal einen Monat mit meinem Vater verbracht.«
    Shan trat an seine Seite.
    »Diese Lujun-Truppen«, sagte Dremu nun sehr viel leiser. »Nach dem Massaker im Tal von Yapchi sind sie durch das Land meiner Familie gezogen. Zu jener Zeit wurden die goloks gefürchtet. Die Chinesen wußten, daß sie sich respektvoll verhalten mußten, sonst würden sie Männer verlieren. Also brachten sie wie alle anderen ihre Achtung zum Ausdruck und zogen weiter. Ihr Befehl lautete, so schnell wie möglich heimzukehren.«
    »Das heißt, sie haben einen Tribut entrichtet?« fragte Shan.
    Dremu nickte. »Jeder mußte diese Gebühr bezahlen, um sicherzugehen, daß die goloks in den Schluchten nicht auf ihn schießen und auch andere davon abhalten würden. Es war eine rein geschäftliche Angelegenheit. Doch meine Leute wußten nicht, was die Chinesen in Yapchi angerichtet hatten. Eine Woche später erfuhren sie von dem Gemetzel und waren beschämt. Wir hätten das Gold nicht genommen«, erzählte er, als wäre es gerade erst geschehen. »Also ist mein Großvater losgeritten, um die Chinesen zu finden und entweder das Auge zu holen oder wenigstens die Goldmünze zurückzugeben, die er erhalten hatte.«
    Er sah Shan mürrisch an. »Um seine Ehre wiederherzustellen«, fügte er trotzig hinzu und nestelte an einem kleinen Lederbeutel herum, der neben seinem gau hing.
    »Das war sehr mutig«, entgegnete Shan ernst.
    »Sie haben ihn erschossen. Der General hat es getan, eigenhändig. Ein paar tibetische Pferdeknechte

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