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Das tibetische Orakel

Titel: Das tibetische Orakel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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das Mädchen unter eine Decke am Feuer liegen gesehen hatte.
    »Sonst war nichts weiter. Manchmal ist es eben so«, murmelte Nyma.
    Die Worte ließen Shan erschaudern. Sie sprach von dem Orakel.
    »Ich habe es dem Mönch erzählt, weil ich hoffte, er könne helfen«, fuhr Nyma fort. »Aber er schien regelrecht wütend zu werden. Ich glaube, nach diesem Angriff ist er noch nicht wieder ganz richtig im Kopf.«
    Shan folgte ihrem Blick zu Padme, der sich abseits der anderen einen Platz an der Mauer gesucht hatte und nun dasaß und sich auf seinem kleinen Block Notizen machte.
    Bei Einbruch der Dunkelheit nahmen sie schweigend ihr Abendessen ein und tranken Tee. Nach dem Tag auf dem kora hing ein jeder still den eigenen Gedanken nach.
    Lokesh ergriff erst wieder das Wort, als er seine Decke neben Shan zum Schlafen ausbreitete.
    »Es ist ein gutes Zeichen, ein wunderbares Zeichen, wenn ein Lama-Heiler auf einer Kräuterwiese auftaucht«, sagte der alte Tibeter, und sein Tonfall verriet, daß er noch immer nicht sicher war, ob der Mann auch wirklich existiert hatte. »Dazu noch ein Mönch auf der Ebene der Blumen. Dieser dobdob wird uns kein Leid zufügen. Alles wird besser, du wirst schon sehen.«
    Doch in den frühen Morgenstunden wurde Shan von einem Schrei geweckt. Er setzte sich auf und hörte Lokesh qualvoll stöhnen. Die wieder aufgebauten Schreine von Rapjung gompa standen in Flammen.

Kapitel 8
    Das spröde trockene Holz der anmutigen kleinen lhakang knackte und prasselte. Es brannte so heiß wie ein Schmelzofen und ließ Funken hoch in den Nachthimmel steigen. Niemand konnte sich den Flammen oder auch nur dem angrenzenden Versammlungsraum weit genug nähern, um eine Ausbreitung des Feuers zu verhindern. Gangs Frau hielt mit tränenüberströmtem Gesicht den Bewahrer zurück, während sein kleiner Sohn das linke Handgelenk des Vaters emporhob, als wolle er es den anderen zeigen. Gangs Handfläche war mit Blasen übersät, der Handrücken versengt und von Ruß geschwärzt. Zu seinen Füßen lag eine kleine metallene Statue. Er hatte den Buddha von dem Altar gerettet.
    Der Bach lag zweihundert Meter weit weg, und sie hatten nur zwei kleine Ledereimer und die Kochtöpfe aus dem Haus, um Wasser herbeizuschaffen. Eine Viertelstunde lang rannten sie hin und her, dann hob Lhandro die Hand und stellte seinen leeren Eimer ab. Sie konnten nur noch zusehen, wie die Feuersbrunst nach der lhakang nun auch den Versammlungsraum und danach die kleine Kapelle verzehrte.
    »Wie eine riesige samkang« , sagte Nyma wimmernd. Es war kaum zu glauben, doch Gang hatte die Gebäude in jahrelanger harter Arbeit aus Zedern- und Wacholderholz errichtet, aus genau dem Duftholz, das man auch in samkangs verbrannte, um die Aufmerksamkeit der Götter zu erregen.
    Plötzlich schrie die Nonne auf und lief zur anderen Seite der lhakang , dicht gefolgt von Shan. Neben einem großen Stück Holz saß vornübergebeugt Winslow und rang nach Atem, ein Stück weiter Tenzin, dessen Gesicht schwarz vor Ruß war. Als eine Windbö die Flammen noch höher auflodern ließ, konnte Shan das Holz etwas besser erkennen. Die beiden Männer hatten die halbfertige Statue der Schutzgottheit geborgen. Hinter ihnen im Schatten saß noch jemand: Gangs kleine Tochter. Sie starrte mit leerem Blick einen Gegenstand zwischen ihren Beinen an. Die Gebetsmühle. Die Hände des Mädchens lagen ausgestreckt am Boden und waren bis aufs rohe Fleisch verbrannt, weil sie das glühend heiße Metall angefaßt hatte. Nyma keuchte auf, hockte sich neben die Kleine und rief nach dem letzten Eimer Wasser, um die furchtbaren Wunden zu versorgen.
    Shan fand Lokesh mit dem Rücken zum Feuer vor. Der alte Tibeter schaute mit tieftraurigem Blick den Funken hinterher, die in die Nacht hinausflogen. Shan brachte zunächst kein Wort über die Lippen, als er an Lokeshs Seite trat. Das konnte kein Unglücksfall gewesen sein. In der näheren Umgebung der drei Gebäude hatte es kein Lagerfeuer gegeben, und Gang hätte die kleine samkang , in der er tagsüber Reste seines wertvollen Holzes verbrannte, niemals unbeaufsichtigt über Nacht weiterbrennen lassen.
    »Jemand von außen ist gekommen«, sagte Shan leise. »Dieser dobdob hat versucht, die Ebene anzuzünden. Es muß.«
    Etwas krachte gegen seinen Kopf und warf ihn auf die Knie. Dann traf ihn ein Gegenstand schmerzhaft an der Schulter. Lokesh schrie auf und beugte sich schützend über ihn.
    »Unterdrücker!« rief eine wütende Stimme. »Tyrann!

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