Das tibetische Orakel
Lebens erhaschten, auf jene Dinge, die den wesentlichen Kern dieser Welt und der gesamten Menschheit darstellten. Andere starben, ohne jemals auch nur eine einzige wahrhaftige Erkenntnis gewonnen zu haben. Doch wenn man wußte, wo man suchen mußte, so hatte er Shan versichert, könne man stets etwas Wahres finden.
Es war eine jener raren Wahrheiten, auf die ihnen nun ein Blick vergönnt wurde. Ein zeitloser Lama-Heiler beim Sammeln von Kräutern, ein Lama-Heiler, der eigentlich gar nicht existieren konnte, auf einem seit Jahrzehnten vergessenen Feld; der sich wie ein Geist manifestierte und bestätigte, daß es einst weise, fröhliche alte Männer gegeben hatte, die Pflanzen sammelten, um der Menschheit den Zauber der Erde nahebringen zu können.
Sie sahen zu, und das Geräusch der geflüsterten Mantras ließ sich kaum mehr vom leisen Rauschen des Windes unterscheiden. Die andere Gestalt verharrte geduckt im Schatten, und Shan erkannte, daß es sich wohl um einen Helfer oder Beschützer des Alten handelte, der Wache hielt, falls Gefahren aus der Außenwelt drohten. Der Lama-Heiler schritt zwischen den blühenden Pflanzen einher, bückte sich gelegentlich, kam manchmal mit einem Zweig wieder hoch und schaute gen Himmel, als berate er sich mit den Luftgöttern über seinen Fund.
Dann stieß der Junge plötzlich ein leises Stöhnen aus, als könne er nur schwer an sich halten, warf beide Arme empor und rief voller Freude: »Lha gyal lo! Lha gyal lo!«
Sofort zog seine Mutter ihn zurück und legte ihm eine Hand auf den Mund.
Doch der Ruf hallte von der Felswand wider. Der Lama und die massige Gestalt eilten sogleich auf die dunklen Schatten zu. Einen winzigen Moment lang hielt der alte Mann inne und sah zu den Felsen, unter denen sie saßen. Dann verschmolz er - wie ein Reh am Waldrand - mit den Schatten und war verschwunden.
Sie warteten eine Viertelstunde darauf, daß der Geisterlama zurückkehren würde, und warfen sich fragende Blicke zu, als sei keiner von ihnen mehr sicher, was sie da gesehen hatten. Dann standen die Hirten auf und machten sich schweigend auf den Weg. Sie folgten einem der Wildpfade, der nach Süden den breiten Bergrücken hinunterführte.
Es war unmöglich, hielt Shan sich immer wieder vor, während sie langsam zurück nach Rapjung gingen. Die Lama-Heiler waren alle tot. Die Soldaten hatten das umliegende Gebiet damals gründlich gesäubert. Angesichts all der Patrouillen und Befriedungskampagnen schien es kaum glaubhaft, daß auch nur ein einziger der Mönche überlebt hatte. Lokesh äußerte sich nicht zu dem Thema und bot keine Erklärung dafür an, warum nach so vielen Jahrzehnten einer der alten Lamas hier auftauchen konnte. Er ging einfach hinter Shan her und verlor sich in seltsamen Träumen - oder in seinen Erinnerungen an ein Kloster, wie es vor fünfzig Jahren Wirklichkeit gewesen war. Einige Schritte hinter Lokesh kam der Amerikaner, sprach ebenfalls kein Wort und wirkte nach dem Erlebnis wie betäubt.
Wieder und wieder ließ Shan die Szene vor dem inneren Auge ablaufen. Es ging nicht darum, daß ein Lama all diese Jahre in den Bergen überlebt hatte, begriff er; die dropkas waren gekommen, weil sie von einem Wunder gehört hatten. Und noch jemand anders hatte einen Geisterlama gesehen, wie ihm unvermittelt einfiel. Die Hirten in der Nähe der Einsiedelei, und zwar in der Nacht von Draktes Tod. Einer der alten Lamas war aufgetaucht, war zurückgekehrt. Aber woher? Warum? Und wieso gerade jetzt, da das Auge sich auf dem Rückweg befand, Drakte gestorben war, die Armee das Land durchkämmte, ein dobdob , ein Beschützer des Glaubens, fromme Buddhisten attackierte und eine Amerikanerin sich in Luft aufgelöst hatte?
Shan konnte darauf keine Antworten geben, er hatte lediglich eine böse Vorahnung. Obwohl er nur wenig wußte, wußte er genug, um Angst zu haben.
Als sie im Lager eintrafen, erkundigte niemand sich danach, wo sie gewesen seien. Einige der anderen waren gleichfalls erst kürzlich von der Umrundung des kora zurückgekehrt und hatten an der Einsiedlerhöhle oder dem drup-chu-Schrein meditiert. Während die Männer aus Yapchi nach den Schafen sahen, ging Nyma zu Shan.
»Es ist wieder passiert«, sagte die Nonne. »Das arme Mädchen.«
Shan blickte von dem Schaf auf, dessen Ladung er soeben festzurrte.
»Sie ist unterwegs einfach umgekippt, fing an zu zucken und hat mit Händen und Füßen auf den Boden getrommelt.«
»Anya?« fragte Shan, dem nun einfiel, daß er
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