Das Tibetprojekt
mit einem Scherz etwas Luft machen musste: »Als nächstes
sagst du mir jetzt sicher, dass Adolf Hitler Buddhist werden wollte.«
»Das weiß ich nicht, aber wir müssen wohl davon ausgehen, dass dieser Harrer mit einem höchst wichtigen Auftrag nach Tibet
geschickt wurde.«
»Im Leben nicht.«
»Die Dokumente, die das belegen, sind hier in dem Umschlag.« Li Mai übergab Decker einen versiegelten Umschlag.
»Nehmen wir an, es stimmt. Dann ist es aber Schnee von gestern.«
»Nicht ganz. Heinrich Harrer und der Dalai Lama haben sich immer wieder getroffen. Außerdem haben wir einen aktuellen Mord,
der offenbar damit in Verbindung steht.«
»Na, da hat der Dalai Lama ja nette Freunde.« Decker konnte es noch immer nicht fassen. Zu viele Fragen stürmten gleichzeitig
auf ihn ein. »Was sagt er denn heute dazu?«
»Wer?«
»Der Dalai Lama.«
»Er hat es in seinen Büchern nie erwähnt.«
»Interessant.« Das fängt ja gut an, dachte Decker. »Und was wollten die Nazis in Tibet?«
|82| Li Mai holte Luft: »Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde von Heinrich Himmler die Forschungsstätte
Ahnenerbe ins Leben gerufen. Sie untersuchte den geistigen und biologischen Ursprung der arischen Rasse. Ebenso sollten die
Weltanschauung und die Lehre vom Herrenmenschen mit naturwissenschaftlichen und philosophischen Materialien untermauert werden.
Beides vermuteten die Nazis in Tibet. Daher schickte Himmler 1939 eine offizielle S S-Delegation zu Forschungszwecken nach Lhasa. Diese wurde vom damaligen Regenten auch mit allen Ehren empfangen.«
Decker verschlug es die Sprache.
Die schöne Chinesin sprach weiter: »Es gab in Nazideutschland öffentliche Propaganda-Filmvorführungen wie ›Geheimes Tibet‹
und jede Menge Schriftmaterial von der Expedition. Hitler und vor allem Himmler zeigten größtes Interesse für die Mysterien
Tibets. Ihr Interesse galt den gesamten rituellen Aspekten, den Symbolen und Festen, die die Nazis für ihre okkulte Weltsicht
verwenden konnten. Darüber hinaus gibt es Vermutungen, dass Hitler noch weit mehr als den Ursprung der Arier in Tibet suchte.
Letzteres konnte aber bis heute nicht bewiesen werden. Alle Unterlagen sind verschwunden.«
Decker nahm einen großen Schluck Martini, um seinen erotischen Frust zu ertränken
.
»Halt. Eins nach dem anderen. Eine Expedition der Nazis nach Tibet? Unglaublich. Davon habe ich noch nie gehört.«
»Es weiß kaum ein Mensch. Wir haben es zwar in unseren Archiven, aber wir dachten, du würdest den deutschen Unterlagen mehr
Glauben schenken. Wir hatten |83| gehofft, der Botschafter würde dich einweihen. Diese Unterlagen hätte er dir eigentlich geben müssen.« Sie beugte sich vor
und tippte auf ihren Umschlag. Darauf stand ebenfalls: Bundesarchiv Berlin und BND.
Decker versuchte, ihr nicht in das Dekolleté zu schielen und schüttelte den Kopf. »Moment. Es gab offiziellen Kontakt zwischen
dem Dritten Reich und Tibet? Und ein S S-Kommando war tatsächlich zu Gast im Potala Palast?«, fragte er sein Gegenüber noch mal.
»Das ist korrekt.« Sie verzog keine Miene.
»Hat der Dalai Lama das jemals öffentlich erwähnt oder bestätigt?«
»Nein.« Die Chinesin biss die Zähne zusammen: »Er hat dem Westen vieles nicht erzählt.«
Die Anspannung in diesen Worten entging Decker nicht. Er fragte sich, was sie damit noch alles meinen könnte, aber jetzt waren
andere Fragen dringender. »Ist das wirklich alles historisch belegt?«
»Du findest alle Unterlagen hier in diesem Umschlag. Du kannst sie später in Ruhe lesen.«
Das wird dann wohl wieder nichts mit uns beiden heute Nacht.
Decker konzentrierte sich auf die Situation. »Also nehmen wir an, es stimmt, was du mir da gerade gesagt hast, dann drängen
sich im Zusammenhang mit diesem Mord einige Fragen auf.«
»Das ist richtig. Wir sind uns fast sicher, dass die offizielle S S-Delegation noch ein unbekanntes, geheimes Ziel hatte. Das hat sie nicht erreicht, und Harrer wurde entsandt, um als Spion die Arbeit
fortzusetzen.«
»Was für ein geheimes Ziel?«, fragte Decker verwundert.
»Das wüssten wir auch gerne. Wir können nur spekulieren. Mehr kann ich dir nicht sagen. Den Rest musst du |84| selbst herausfinden.« Sie schlug ihre langen, schlanken Beine erneut übereinader. Dabei rutschte ihr Kleid etwas hoch.
Decker tat, als ob er es nicht wahrnehmen würde, grübelte und wandte ein: »Eins ist aber seltsam an der Geschichte. Das
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