Das Tibetprojekt
Decker nicht mitmachen.«
»Das kommt nicht in Frage. Die Sache muss laufen. Decker ist der Beste, den wir kriegen können.« Der Mann am anderen Ende
der Leitung überlegte kurz. »Dann erhöhen wir den Einsatz. Sag du ihm die Hintergründe.« Er machte eine Pause. »Und zwar alles.«
»Du willst mit vollem Einsatz pokern? Ist das nicht zu gefährlich? Das heißt doch, den schlafenden Tiger am Schwanz ziehen!«,
sagte Li Mai.
»Seit wann bist du so zimperlich? Sie werden es nie erfahren.«
»Ich hoffe, du hast recht. Sonst bricht die Hölle los«, sagte Li Mai und stand auf. Auf ihrem Weg zum Aufzug kamen ihr der
Botschafter und Stahlmann entgegen. |76| Während der Graf sie sehr höflich mit einem schweigenden Lächeln begrüßte, sah sie der Attaché mit einem bösen Blick an. Sie
ging mit einem Nicken an ihnen vorbei.
Ein Klopfen riss Decker aus seinen Gedanken. Er ging zur Tür und öffnete. Li Mai stand im Flur. »Kann ich noch mal reinkommen?«,
sagte sie und legte lächelnd den Kopf schräg.
»Sicher. Der Champagner ist noch kalt.« Decker grinste.
»Später«, sagte sie und ging in die Bibliothek. »Wir müssen reden.«
Sie standen an entgegengesetzten Enden des Raumes, und Li Mai machte keinerlei Anstalten, ihrem Tanzpartner näher zu kommen.
Auch Decker wartete ab. Er fühlte, dass noch nicht alle Karten auf dem Tisch lagen.
»Was hat der Botschafter dir erzählt?«, fragte die junge Frau.
Decker sagte es ihr.
Li Mai sah ihn mit einem ernsten Blick an. »Der Graf und sein Laufbursche haben dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.«
Wer war sie?
Decker schaute Li Mai fragend an. »Woher weißt du das?«
»Vielleicht konnte er es nicht wissen. Oder es war ihm unangenehm«, sagte sie vorsichtig.
»Und was hast du damit zu tun?«, fragte er.
Sie lächelte unschuldig. »Ich bin Diplomatin, hast du das schon vergessen?«
»Tatsächlich?«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihn sehnsüchtig an. »Ich werde es dir später erklären. Vertraue |77| mir für den Moment. Peking möchte, dass du den Auftrag annimmst.«
»Eben war es noch Deutschland.«
»Vielleicht sind es ja beide?«
»Ach ja?« Er blickte sie durchdringend an. »Haben
wir uns deswegen auf dem Presseball kennengelernt?«
Sie ging auf ihn zu, blieb vor ihm stehen, hob die Hand und schien etwas sagen zu wollen, schaute dann aber zu Boden. Es entstand
eine Pause.
Decker ging ans Fenster und sah hinaus auf die Lichter der Stadt. Er dachte nach. Dann kehrte er zu ihr zurück. »Okay. Warum
ich?«
»Es geht sowohl um Politik als auch um Religion. Komplizierte Zusammenhänge müssen in allerkürzester Zeit aufgeklärt werden.
Es gibt da einige unerklärliche Vorgänge in Tibet. Unsere Fachleute sind an dieser Aufgabe bereits gescheitert«, sagte Li
Mai, in zweifacher Hinsicht verlegen. »Wir brauchen dich und deine Methoden. Nach unserem Gespräch auf dem Ball heute Abend
weiß ich, dass du der richtige Mann für diese Ermittlungen bist. Und zwar der einzige.«
Sie holte tief Luft. »Du wirst jede nur erdenkliche Unterstützung von uns erhalten. Alles, was du dir vorstellen kannst. Es
ist äußerst wichtig für uns.«
»Warum sollte ich mitmachen?«
»Du kannst die Ergebnisse für dich verwenden. Für deine Forschung und deine Vorlesungen. Alles, was du herausfindest, gehört
dir. Bis auf Elemente, die nur die inneren Angelegenheiten Chinas betreffen. Ich denke, mit dem Material kannst du deine Thesen
untermauern und die akademische Welt weiter in Atem halten, wie es dir gefällt. Du wirst in Tibet forschen können wie kein
anderer westlicher Wissenschaftler zuvor.«
|78| Decker zögerte. Eigentlich wollte er nur die Frau. »Wieso interessieren sich der BND oder die chinesische Regierung plötzlich
für Religion? Und was soll das Hakenkreuz auf der Hand eines Toten mit Tibet zu tun haben?«
Li Mai hatte ihre persönliche Seite wieder im Griff. »Das weiß ich leider auch nicht. Aber die Antwort auf diese Fragen ist
außerordentlich wichtig für uns. Ich sage dir, was ich weiß, und dann entscheidest du, ob du mitmachst. Hast du etwas zu trinken?«
»Ja, natürlich. Soll ich den Champagner holen?«
Li Mai lächelte. »Lieber nicht. Hast du vielleicht Mangosaft?«
Als Decker mit den Getränken zurückkam – er hatte zu seiner Überraschung tatsächlich eine Flasche Mangosaft in seinem Kühlschrank
gefunden, blieb selbst aber lieber beim Martini – saß die schöne Chinesin bereits
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