Das Tibetprojekt
auf der Couch und hatte die Beine untergeschlagen.
Bei ihrem Anblick verfluchte Decker den blöden Botschafter und seinen giftigen Schildknappen erneut. Als er ihr näher kommen
wollte, wies Li Mai ihn mit einem winzigen Kopfschütteln in seine Schranken. Brav setzte er sich in den Sessel gegenüber.
»Was weißt du über Tibet?«, fragte sie einleitend.
Decker schaute sie verblüfft an. »Was jeder darüber weiß.« Er überlegte kurz. »Fast alle im Westen kennen das Schicksal Tibets
und die Geschichte des Dalai Lama. Viele Menschen verehren ihn und sind sogar zum tibetischen Buddhismus übergetreten. Tibet
galt schlichtweg als ein kleines Paradies auf Erden, bevor ihr da einmarschiert seid.«
Li Mai kniff die Augen zusammen und unterdrückte ihren Stolz und ihren Zorn. »Das genügt nicht. Gestatte |79| mir einige Ausführungen.« Sie nippte an ihrem Glas und nickte dann anerkennend. »Sagt dir der Name Brad Pitt etwas?«
»Der Schauspieler?«
»Genau der. Kennst du auch seinen Film ›Sieben Jahre in Tibet‹?«
»Nein, so was interessiert mich nicht.«
Li Mai verspannte etwas die Lippen. »Dieser Film ist das Material nicht wert, auf dem er gedreht wurde.«
»Das ist nichts Neues in Hollywood. Was ist daran so Besonderes?«
»In diesem Film werden Lügen verbreitet, die von historischer Relevanz sind.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Brad Pitt die Leute absichtlich zum Narren hält. Und ich sehe beim besten Willen keinen
Bezug zu dem Mord. Schon gar nicht zu dem Hakenkreuz und wofür es steht.«
Außerdem,
dachte Decker
, liegt der Glückliche wohl gerade in den Armen von Angelina Jolie. Und was mache ich hier?
Sie überlegte eine Weile. Dann sagte sie: »Es gibt aber eine Verbindung.«
Und was für eine.
»Ich fürchte, der Hollywoodstar wusste gar nichts über die Person, die er spielte.«
Decker trank sein Glas aus und schenkte sich nach.
»Um was geht es denn in diesem Film?«, fragte Decker.
»Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Brad Pitt spielt den österreichischen Bergsteiger Heinrich Harrer, der
in den dreißiger Jahren als erster den Nanga Parbat bezwingen wollte. Der Versuch scheitert mit vielen Opfern. Überrascht
vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gerät Harrer in britische Gefangenschaft in Indien. Er kann fliehen und entkommt über
die Grenze nach Tibet. Dort lernt er den Dalai Lama kennen |80| und wird einer seiner engsten Freunde. Von Heinrich Harrer lernt der Dalai Lama viel über die westliche Welt. In seiner Autobiografie
spricht der tibetische Gottkönig in den höchsten Tönen von Harrer. Umgekehrt hat Harrer in seinem Buch ›Sieben Jahre in Tibet‹
das Bild von Tibet im Westen geprägt.«
Als Li Mai fertig war, fragte Decker: »Na und? Klingt doch nett. Wo ist das Problem?«
»Das mit der Besteigung des Nanga Parbat ist nur die Hälfte der Wahrheit. Die Geschichte stimmt so nicht.« Li Mai nahm einen
Schluck Saft und fuhr dann fort: »Heinrich Harrer war nicht irgendwer. Er war möglicherweise auch gar nicht auf der Flucht.
Und wir vermuten, dass er auch nicht zufällig in Tibet gelandet ist.«
Decker hob die Augenbraue: »Sondern?«
Sie zögerte eine Sekunde, dann sagte sie: »Wir denken, Harrer war in geheimer Mission in Tibet unterwegs.«
»Was du nicht sagst.« Decker war leicht genervt. Er wollte jetzt lieber da weitermachen, wo sie aufgehört hatten. »Und wer
hat ihn dahin geschickt?«
»Adolf Hitler.«
Decker glaubte, sich verhört zu haben und schaute Li Mai verblüfft an. »Der ›Führer‹?«
Sie antwortete nicht. Decker schüttelte den Kopf. »Erwartest du, dass ich das glaube?«
»Das brauchst du nicht. Dafür gibt es Beweise«, sagte Li Mai. »Heinrich Harrer war kein harmloser Bergsteiger.« Sie blickte
Decker besorgt an: »Der Mann gehörte zu einer Spezialeinheit der SS.«
Bei dem Thema verging Decker langsam die Laune und ein Schauer lief ihm unwillkürlich über den Rücken.
Die SS
. Der schwarze Orden. Hitlers Bluthunde. Die legendäre, zu bedingungslosem Gehorsam auf den ›Führer‹ |81| eingeschworene Elitetruppe. Sie war für die Durchführung der schlimmsten aller Verbrechen des Dritten Reiches verantwortlich.
Sie waren aber auch die Speerspitze in politischen und ideologischen Angelegenheiten. Decker brauchte eine Weile, um sich
zu sortieren.
Das Hakenkreuz auf der Hand des Toten.
Ein Nazi am Hof des Dalai Lama.
Für einen Moment fand Decker das alles so aberwitzig, dass er sich
Weitere Kostenlose Bücher