Das Tibetprojekt
das Leiden, die Verschwendung, die Vergeblichkeit und Vergänglichkeit – all das könnte enden.
Patrick hatte lange nach Möglichkeiten zur Lösung der Probleme gesucht und er wusste jetzt: Buddha zeigt uns den Weg.
Decker war ein ausgesprochener Ketzer und Kritiker aller Religionen. Aber er konnte auch zuhören und war Argumenten zugänglich.
Und der Buddhismus hatte diese Argumente. Vielleicht würde Decker einsehen, dass er mit seinem Zynismus nicht weiterkam. Und
überhaupt, war Decker glücklich?
Mit diesen Überlegungen stand Patrick vor Deckers Tür, als dieser ihn zu sich hereinbat. Patrick betrat die Suite und für
einen Moment waren all seine Gedanken verflogen. Er war ergriffen. Er stand in einer anderen Welt und konnte sich den Reizen
für einen Augenblick nicht entziehen. Patrick wusste nicht, wie ihm geschah, aber er fühlte sich auf einmal geborgen. Hier,
hoch oben über der Stadt und abgeschirmt vom Alltag, war er der Welt entrückt und all seiner Sorgen enthoben. Ein wundervolles
Gefühl.
Hier wohnte ein Mensch, der seinen Platz im Leben gefunden hatte. Gleichzeitig war es offensichtlich die Wohnung einer suchenden
Seele, die auch nach Erkenntnis und innerem Reichtum strebte. Die klassische Eleganz |88| der Einrichtung wurde durchbrochen von kreativem Chaos. Überall lag etwas herum und verriet so manches über den Besitzer.
Patrick erblickte große Schwarzweiß-Fotos, alte Navigationsinstrumente, aufgeschlagene Bücher, eine Nikon, jede Menge CDs,
Notizblöcke und Bilder, die noch nicht gerahmt waren.
Im Grunde fühlte sich die ganze Wohnung an wie das Atelier eines Künstlers. Der Luxus wirkte gelebt, nicht zur Schau gestellt
oder erzwungen. Es schien, als hätte hier jemand die seltene Gabe, sich mit Geld seine Freiheit und Unabhängigkeit zu erkaufen.
»Kommen Sie zu mir in die Küche?«, rief Decker. »Wir sollten wenigstens anständig frühstücken, wenn wir schon so früh auf
sein müssen.«
Erst jetzt fiel Patrick auf, dass ein appetitanregender Duft nach Honigmelonen, frisch gepresstem Orangensaft, Toast, Darjeeling
und Schinken durch den Eingangsflur schwebte. Die Küche lag auf der östlichen Seite des Hauses und die Sonne flutete hell
durch die Scheiben.
»Patrick, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie so schnell und noch dazu am Sonntagmorgen kommen konnten«, fing er das Gespräch
an. »Möchten Sie Kaffee? Oder trinken Sie auch Tee?«
Patrick war viel zu verwirrt, um auf die Frage seines Gastgebers einzugehen. »Es ist mir eine Ehre«, sagte er und setzte sich
an den großen Glastisch. »Was kann ich für Sie tun?«
»Erzählen Sie mir vom tibetischen Buddhismus«, sagte Decker. »Mögen Sie lieber weiche Eier oder soll ich Spiegeleier mit Speck
machen?«
»Was genau? Nein, keine Eier.«
»Sagen wir, eine kurze Einführung.«
|89| Patrick überlegte einen Moment. »Wissen Sie, ich befasse mich schon lange mit der Frage, was man tun kann, um mit den Kräften
in uns fertig zu werden, von denen Sie neulich im Fernsehen gesprochen haben. Aber ich finde, im Westen gibt es keinen Halt
im Leben und keinen Ausweg aus der Misere.«
Decker schenkte ihm Tee ein. »Möchten Sie Milch? Da ist Zucker. Na, viele würden auf die Bibel verweisen«, sagte er.
Patrick schüttete sich etwas Milch in den Tee. »Das ist genau der springende Punkt. Die Bibel liest sich wunderbar und sie
enthält sicher die richtigen Absichten. Aber nicht den Weg dahin. Wie Sie neulich schon angedeutet haben, haben es die Christen
moralisch nicht weit gebracht.«
»Sie meinen, sie bringen keine besseren Menschen hervor? Hier, nehmen Sie etwas Toast.«
Aber Patrick ließ sich nicht ablenken. »Richtig. Sie haben dem Vatikan völlig zu Recht vorgeworfen, die Ideale von Jesus verraten
zu haben. Die Geschichte der Päpste ist wirklich erschreckend. Sie haben Jesus vergessen und ihre Seelen verkauft.« Patrick
trank einen Schluck Tee und lächelte glücklich. »Und genau das ist bei den tibetanischen Priestern ganz anders. Sie reden
nicht nur von der Liebe zu den Menschen, sie handeln auch danach. Sie tun wahrhaft Gutes!«
»Das hört man allgemein«, sagte Decker und ließ etwas Butter auf dem heißen Toast zerlaufen. »Aber nach allem, was ich über
Menschen weiß, fällt es mir schwer, das zu glauben.«
Decker seufzte, während Patrick in Fahrt kam: »In Tibet sieht man, wie eine Welt ohne Gewalt aussehen kann. Und jeder kann
diesen Weg auch für sich
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