Das Tibetprojekt
gehen.«
|90| Decker versuchte bei der Sache zu bleiben. »Gut, was macht den nun den tibetischen Buddhismus zu so etwas Besonderem?«
»Das kann ich Ihnen sagen.« Jetzt war Patrick in seinem Element. Er griff nach einer der Melonenscheiben und biss hinein.
Der süße Saft tropfte klebrig auf seinen Teller. »Es ist die reinste aller Lehren. Völlig unverfälscht. Der Dalai Lama sagt,
dass die alten tibetischen Texte die echten Worte Buddhas enthalten. Nie wurden sie verändert. Deshalb sind so viele Menschen
überall auf der Welt seit langem von dem tibetischen Buddhismus fasziniert.«
»Hm. Also gut, nehmen wir an, es ist, wie Sie sagen, dann wüsste ich gerne, wie diese reine Lehre denn aussieht.« Decker wusste
nicht, wonach er suchte. Aber irgendwo musste der Schlüssel versteckt sein.
»Gern.« Patrick legte die Melonenschale beiseite und holte tief Luft. »Nach der Lehre Buddhas befindet sich der Mensch in
einem ewigen Kreislauf von Tod und Wiedergeburt. Gemäß dem Prinzip, jeder bekommt, was er verdient, werden die Taten und Gedanken
des jetzigen Lebens im Geist, der den Körper nach dem Tod verlässt, gespeichert und bestimmen alle Umstände der darauffolgenden
Existenz, das heißt, man kann sich in Richtung Erlösung schrittweise verbessern oder aber man muss im nächsten Leben für seine
jetzigen Untaten büßen. Der einzige Grund, warum ein Mensch bösartig handelt, liegt in der Unkenntnis oder der Missachtung
dieses Kausalzusammenhangs.«
»Sie reden vom Karma?«
»Genau. Erkennt der Mensch nicht, dass er für sein eigenes Schicksal selbst verantwortlich ist, ja, dass im Grunde die ganze
Welt nur ein Abbild der gesammelten |91| karmischen Eindrücke aller Menschen darstellt, wird er sich schaden. Andererseits bedeutet das aber auch, dass die Lösung
zu allen Problemen der Menschheit in uns selbst liegt.«
»Das würden die meisten anderen Religionen auch sagen.«
»Ja, natürlich, Sie haben ja auch nicht unrecht. Aber nur der Buddhismus hat die Mittel, um alle Lösungen zu finden und sie
auch umzusetzen. Es gibt Meditationstechniken, mit denen es uns möglich ist, unseren Geist so weit in den Griff zu bekommen,
dass unser Handeln aus einem Zustand der inneren Zufriedenheit heraus von Liebe, Wärme, Gutherzigkeit und Mitgefühl geleitet
wird.«
»Und dieses Instrument fehlt den anderen Religionen?« Decker ließ etwas Honig auf seinen Toast fließen und kaute.
»Richtig. Die anderen reden nur salbungsvoll, während die Tibeter über Mittel und Wege verfügen, die Lehre auch zu realisieren.«
»Und das soll auch für ein Staatsoberhaupt gelten?«
»Oh ja. Das macht den Dalai Lama zu dem, was er ist. Sind alle Machtgelüste und Habgier erst einmal aus den Köpfen der Menschen
vertrieben, zieht die Politik automatisch nach. Für jegliche Konflikte fehlt die Grundlage. Das bedeutet, aus dem inneren
Frieden resultiert unmittelbar der äußere. Deswegen sagt doch der Dalai Lama immer wieder, dass es für ihn gar keinen Unterschied
gibt zwischen Religion und Politik.«
»Verzeihen Sie, ich will Sie nicht provozieren, aber was war, als die Chinesen einmarschiert sind? Meinen Sie nicht, die Tibeter
haben zurückgeschossen? Hier, nehmen Sie etwas Schinken!«
|92| »Das ist keine Provokation, sondern das untermauert nur, was ich bereits sagte, denn die Antwort ist: Nein. Tibet hat keine
Gewalt angewendet. Danke, ich esse kein Fleisch. Sehen Sie, Herr Dr. Decker, wenn es heiter, sanft und harmonisch in Ihnen ist, dann vergelten Sie Feindschaft nicht mehr mit Feindschaft. Das
ist ja gerade das Schöne. Sogar angesichts solcher Untaten wie der Invasion empfinden die Tibeter noch Liebe und Mitgefühl
für ihre Feinde.«
»Sie wollen mir weismachen, die haben sich nicht gewehrt? Das halte ich für wenig wahrscheinlich.« Decker ließ zwei weitere
Scheiben Weißbrot in den Toaster gleiten und drückte den Hebel herunter.
»Sie verstehen nicht. Der Dalai Lama hat diese sanfte Politik als einziger auf der Welt verwirklicht, denn er ist ein voll
erleuchtetes Wesen. Er hat die Lehre mit Hilfe der Meditationstechniken schon vor vielen Leben verwirklicht und seitdem setzt
er sie immer wieder um.«
»Was meinen Sie mit
vielen Leben
?«
»Nun kommen wir zu einem Punkt, der einmalig ist auf der Welt.« Patricks Ton wurde feierlich, während er nach seinem Orangensaft
griff. »Der tibetische Herrscher wird seit langer Zeit immer wiedergeboren – und zwar
Weitere Kostenlose Bücher