Das Tibetprojekt
Nachrichtendienstes.«
Decker wurde flau im Magen. Die Worte Stahlmanns fielen ihm ein.
Überlegen Sie sich, wem Sie vertrauen.
Li Mai blickte Decker an und zupfte an seiner Armeejacke. »Passt zu meiner Uniform. Ist die echt?«
»Ja. Mein bequemstes Stück und sehr praktisch auf Reisen. Ein Original vom Bundesheer Österreich. Schau mal hier, das wird
dir gefallen ...« Er deutete auf das Wappen an der Schulter.
Li Mai betrachtete es und sagte dann mit einem Lächeln: »Na so was. Hammer und Sichel. Ist Österreich kommunistisch geworden?«
»Nein, das Wappen war immer schon so. Das heißt: seit 1918. Damals haben die Ösis und wir unsere Kaiser zum Teufel geschickt, sieben Jahre später als die Chinesen.«
»Hm, ich staune. Könnte wirklich von uns ein«, scherzte Li Mai. »Ich hoffe, diesmal bringen Hammer und Sichel uns Glück.«
|123| Sie hörten, wie die Triebwerke gestartet wurden.
»Setz dich lieber«, unterbrach sie ihre kleine Konversation. »Wir rollen direkt zur Startbahn.« Li Mai deutete auf eine komfortable
Sitzecke. Decker nahm Platz und sah sein Gegenüber eindringlich an.
Nun war endgültig klar, dass sie ihn unter einem Vorwand kennengelernt hatte. Wenn er aus der ganzen Sache aussteigen wollte,
dann wäre jetzt die letzte Gelegenheit dazu. Aber dann würde er diese Frau nie wieder sehen, und er hatte wie letzten Abend,
als sie in seiner Bibliothek standen, auch jetzt das Gefühl, dass Li Mai ihm trotz ihrer undurchsichtigen Rolle wohl wollte.
Hinter der eiskalten und berechnenden Fassade der Agentin war noch etwas. Er blickte sie an. Li Mai war in ihrer Uniform nicht
weniger attraktiv als in ihrem Abendkleid.
Die Maschine startete nach Osten und legte sich sofort in eine große Linkskurve. Decker sah aus dem Fenster auf die Hochhäuser
Frankfurts, die rechts vorbeizogen. Das, in dem er wohnte, war auch zu erkennen. Ihm war noch immer sonderbar zumute. Auf
was hatte er sich da eingelassen? Aber hat Gefahr nicht auch eine reizvolle Komponente? Li Mai saß regungslos da und blickte
ebenfalls aus dem Fenster. Solange sich die Maschine im Steigflug befand, blieben sie beide sitzen, schwiegen und hingen ihren
Gedanken nach.
Als die Maschine ihre Reisehöhe erreicht hatte, stand Decker auf. »Dann mach ich mich mal an die Arbeit«, sagte er.
Li Mai sah ihm nach, sagte aber nichts.
Er schlenderte an den Regalen entlang. Da standen Dutzende von Büchern. Eine endlos lange Liste von Forschern, Politikern,
Theologen, Philosophen und Journalisten auf der ganzen Welt hatten Bücher über den Dalai |124| Lama und den tibetischen Buddhismus geschrieben. Und im Internet war es dasselbe. Die Flut der Websites war endlos. Die Kunst
und Kraft der Mandalas, die Wirkung der Meditation und das sagenumwobene Tibetische Totenbuch. Die Kommentare waren eine gebetsmühlenartige
Wiederholung der begeisterten Worte von Patrick.
Dass es dem Dalai Lama gelungen war, eine von Liebe und Gewaltlosigkeit geprägte Politik zu betreiben, galt zumindest im Westen
als gültige Wahrheit. Sein größtes Verdienst aber war, dass er selbst nach der Besetzung des Landes durch die Chinesen nicht
von seinem gewaltfreien Kurs abgewichen sei, hieß es allenthalben. Und dafür war ihm gut dreißig Jahre später auch der Friedensnobelpreis
verliehen worden.
Die Tibeter werden von ausländischen Besuchern immer als glückliches, freundliches Volk beschrieben,
sagte der Dalai Lama in seiner Dankesrede
. Das gehört zu unserem Volkscharakter, der von kulturellen und religiösen Werten geprägt ist, welche die Bedeutung des inneren
Friedens durch die Entwicklung von Liebe und Güte zu allen lebenden und fühlenden Wesen, Menschen wie Tieren, unterstreichen.
Und so erfreute sich der tibetische Gottkönig weltweit zunehmender Beliebtheit und wurde zum Popstar der Gutmenschen und Friedensfreaks.
Ohne Grußwort des Dalai Lama waren viele Veranstaltungen gar nicht mehr denkbar. Und seine Auftritte im orangefarbenen, schulterfreien
Dienstanzug waren nicht nur beim Fernsehen, sondern auch bei der Presse so populär, dass die faden westlichen Politiker sich
geradezu danach drängten, mit ihm abgebildet zu werden. Selbst die besten Unis der Welt luden ihn ein.
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Respekt.
Decker schaute von seinen Notizen auf. Aber was hatte das alles mit dem Dritten Reich und den Nazis zu tun?
Decker hatte noch immer keinen einzigen Hinweis gefunden, der auch nur annähernd ein Grund für Hitlers
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