Das Tibetprojekt
»Darf ich vorstellen? Mein Chef, Generalmajor Tang ... Dr. Decker.«
Die beiden Männer schüttelten sich widerwillig die Hand und nickten sich zu, ohne allzuviel Interesse an weiteren Worten.
Dann richteten sich ihre Blicke wieder auf Li Mai.
»Schön«, sagte sie. »Wer von den Herren möchte anfangen?«
Decker wartete nicht länger. »Das Foto ist manipuliert worden. Von euch. Warum?«
Verdammt, wie hat er das gemacht,
dachte Tang. Er lächelte und sagte etwas verkniffen auf Englisch: »Sie sind wirklich gut, Dr. Decker.«
»Ich weiß. Und ich hab’s nicht gerne, wenn man versucht mich reinzulegen. Also, was wird hier gespielt?«
Tang blickte seine Kollegin wieder an: »Das wüsste ich allerdings auch gerne.« Decker verstand die Welt nicht mehr.
Li Mai sagte nur trocken: »Das kann ich Ihnen beiden nicht sagen.«
»Das sollten Sie aber, Genossin«, sagte Tang Wu. »Ich muss annehmen, dass Sie Zusammenhänge hinter dem Foto kennen, die man
mir nicht mitgeteilt hat, obwohl ich diese Aktion leite. Wenn dem so ist, dann wird es Sie interessieren, was in dieser Mitteilung
unseres Abhördienstes steht, die ich heute Morgen erhalten habe.« Er tippte auf das Papier, das er vor Li Mai gelegt hatte.
»Daraus geht hervor, dass ein Angehöriger der deutschen Botschaft in Peking, möglicherweise der Attaché für innere Angelegenheiten,
höchst verdächtige Kontakte nach Südamerika hat. Wie es scheint, ist dort jemand ein aktiver Nazi.«
Li Mai sah ihn entsetzt an.
Wir haben den schlafenden
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Löwen geweckt! Das ist genau das, was auf keinen Fall hätte passieren dürfen. Jetzt wissen sie, dass wir das Staatsgeheimnis
in dieser Sache aufs Spiel gesetzt haben.
»Genossin Li, wenn Sie etwas wissen, dann sagen Sie es. Die Lage ist außer Kontrolle geraten. Aufgrund dieser Meldung müssen
wir annehmen, dass diese Nazi-Organisation unsere Ermittlungen zu behindern versucht. Unsere Grenzbeamten sind zu erhöhter
Wachsamkeit aufgefordert, aber bei Hunderttausenden von Studenten, Geschäftsreisenden und Touristen aus dem Westen können
wir natürlich nicht verhindern, dass Agenten hier einsickern.«
»Was für Agenten?«, fragte Decker entgeistert.
»Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Jemand aus der Botschaft einen S S-Killer nach China beordert hat.«
»Was?«, sagten Li Mai und Decker gleichzeitig.
Decker blickte den Chef des chinesischen Geheimdienstes ungläubig an: »Na prima. Wollen Sie allen Ernstes behaupten, dass
im 21. Jahrhundert ein Nazikiller uns sucht?«
»Nicht
uns
«, sagte Tang mit einer leichten Verbeugung. »Ich fürchte, nur Sie, Dr. Decker.«
Decker wurde blass. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. »Das wird ja immer besser«, sagte er schließlich. »Ich sage Ihnen
beiden was: Vergessen Sie die Sache ganz einfach.«
Tang warf Li Mai einen Blick zu. Er wartete offensichtlich auf eine Reaktion von ihr.
Li Mai wirkte angespannt. Die Anwesenheit ihres Vorgesetzten schien die Sache noch schwerer zu machen. Aber dann sagte sie
trotzdem: »Tu das nicht, Philipp. Wir brauchen dich.«
|139| Ihre Stimme zitterte etwas, und sie drehte Tang bewusst den Rücken zu. »Nur du kannst das hier über die Bühne ziehen, Philipp.
Wir brauchen dein Wissen und Können. Wir müssen eine komplette Kultur in ihre Bestandteile zerlegen. In wenigen Tagen. Und
wir müssen Dinge aufspüren, die vermutlich sehr tief in der Vergangenheit und der Seele eines Volkes begraben liegen. Ich
weiß, du kannst das schaffen. Ich bitte dich, hilf uns.«
Decker wurde es ungemütlich bei diesem Tonfall. Er lachte. »Danke für das Kompliment, aber ich bin doch nicht lebensmüde.
Außerdem habe ich das Gefühl, dass ich unter falschen Voraussetzungen hierhergelockt worden bin.«
Li Mai errötete, gab aber nicht auf. Sie suchte nach Worten. »Wir konnten nicht von Anfang an die ganze Wahrheit sagen.«
»Tut ihr das denn jetzt?«
»Das darf ich dir nicht sagen.«
»Dann können wir gleich wieder nach Frankfurt starten.«
Li Mai überlegte blitzschnell. »Es hat nicht nur mit diesem mysteriösen Anruf zu tun. Aber das jedenfalls haben wir so nicht
einkalkuliert.«
»Womit hat es denn noch zu tun?«, fragte Decker.
»Weiter kann ich nicht gehen. Akzeptiere es. Bitte.« Sie blickte ihn an: »Es ist eine rein interne, chinesische Angelegenheit
und hat keinen Einfluss auf deine Arbeit.«
»Tatsächlich? Und was ist, wenn wieder etwas schiefgeht?«, fragte Decker.
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