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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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haben wir es hier offensichtlich mit zwei Geheimnissen
     oder einem doppelten Netzwerk zu tun. Richtig?«, fragte Decker eher rhetorisch.
    »Möglicherweise«, sagte Tang Wu.
    »Dann wäre die nächste Frage an euch zwei Spezialisten, ob es sich bei dem Geheimnis der Nazis und der Tibeter zufällig um
     ein und dieselbe Sache handeln könnte?«
    |143| »Das ist denkbar«, sagte Li Mai mit einem seltsamen Zwischenton.
    »Na, wenn das so ist, dann haben wir wirklich noch eine Menge zu tun«, sagte Decker und sah sie durchdringend an. Hielten
     die beiden immer noch Informationen zurück? Er schob den Gedanken beiseite. »Verlieren wir keine Zeit.« Er nahm das Foto wieder
     an sich und wollte gerade zur Tür hinausgehen, als ihm noch etwas einfiel:
    »Sagt mal, wo sind wir hier eigentlich?«

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    Es war früh am Morgen in Peking. Decker saß in einer der Sitzgruppen des Jets und wartete auf seinen Gast. Es war Li Mai tatsächlich
     gelungen, einen Veteranen des Tibetfeldzuges zu einem Besuch in ihrem Jet zu bewegen. Wu Ti war 1959 ein junger Truppenführer
     gewesen. Heute war er ein hochdekorierter General im Ruhestand.
    Er würde jeden Moment eintreffen. Auf dem Tisch standen heißer Tee, Baodze und weiche chinesische Erdnüsse bereit. Decker
     zupfte an seinem Jackett. So eine Chance würde ein westlicher Historiker und Wissenschaftler nicht so schnell wieder bekommen.
     Es durfte ihm nichts entgehen.
    Er blickte aus dem Kabinenfenster und sah eine schwarze Limousine vorfahren. Auf der Motorhaube steckte eine rote Standarte.
     Zwei Soldaten der Volksbefreiungsarmee sprangen heraus, öffneten die hintere Tür und salutierten. Ein alter Mann in grüner
     Uniform stieg aus und ging gemessenen Schrittes zur vorderen Treppe des Flugzeugs.
     
    Dann trat der General ein. Er war eine kleine, stämmige, ungeheuer eindrucksvolle Gestalt. Sein Mund war schief und seine
     erkalteten Augen von vielen Falten und Narben |145| umgeben. Sein Gesicht schien von unzähligen Kämpfen, Schmerzen und Härte geprägt. Decker stand auf, um ihn zu begrüßen, und
     zog hastig den Kopf ein, als er merkte, dass sein Gegenüber ihm kaum bis zur Brust ging.
    Den General schien der Größenunterschied gar nicht zu stören. Er nickte dem Deutschen hoheitsvoll zu und sagte mit schwerem
     Akzent: »Behalten Sie ruhig Platz.« Dann setzte er sich. Seine Leibwächter warteten draußen, und Decker war mit ihm allein.
     Der General schwieg.
    Bei dem Gedanken, wer vor ihm saß, lief es Decker kalt über den Rücken. Dieser Mann hatte an vorderster Front einen Feldzug
     kommandiert. Er blickte in das lebende Gesicht des Krieges. Für Zivilisten unvorstellbar, was dieser Mann gesehen und vielleicht
     auch getan hatte. Wie alle Militärs, die auf dem Schlachtfeld groß geworden waren. Ein Zeitzeuge der Weltgeschichte. Ein Mann,
     der über Leben und Tod entschied.
    »General Wu, ich habe Sie um diese Unterredung gebeten, weil es einige Dinge von äußerster Wichtigkeit gibt. Ich nehme an,
     Sie sind informiert.«
    Keine Antwort. Nur dieser eiskalte Blick.
    Decker wusste nicht, wo er anfangen sollte. Ein falsches Wort, und der General würde vielleicht einen Wutanfall kriegen. »Es
     geht um die Invasion in Tibet.«
    Die Augen des Alten verengten sich und fixierten Decker wie ein Zielerfassungsradar. Schweißtropfen bildeten sich auf Deckers
     Stirn. »Mich interessieren weder die rechtlichen noch die moralischen Hintergründe.«
    Fast sah es so aus, als hätte der alte Wolf bei diesen Worten so etwas wie Zustimmung signalisiert. Vielleicht sogar innerlich
     den Finger vom Abzug genommen. Jedenfalls |146| hörte er weiter zu. Decker musste jetzt einen Einstieg finden, der sein Gegenüber nicht erzürnte und ihn vielleicht sogar
     für Decker gewann.
    »Im Westen ist man der Meinung, Tibet sei ein friedliches Land gewesen und die Chinesen hätten es brutal überfallen.« Der
     General verengte seine Lippen und zog zischend Luft ein. Decker musste schnell reagieren. »Ich glaube nicht, dass es so einfach
     ist. Wir kennen nur die tibetische Darstellung. Daher habe ich Sie gebeten, hierherzukommen. Um die chinesische Sicht der
     Dinge zu erfahren. Und noch etwas, General. Ich bin hier, nicht um zu urteilen. Ich will nur verstehen.«
    Es schien, als entspannte sein Gegenüber sich etwas. Endlich reagierte der Soldat: »Niemand im Westen hat das Recht, uns zu
     verurteilen. Die Imperialisten haben die Welt zerrissen und viele Völkermorde begangen. Sie

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