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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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wie es der Dalai Lama und die orthodoxe Überlieferung wahrhaben wollten. »Wie ging es weiter?«
    »Die Geschichte wiederholte sich. Zunächst führten die anhaltenden Kämpfe zur Bildung zahlreicher Kleinfürstentümer ohne eine
     zentrale Gewalt. Dann kam ein König, den sie Yeshesod nannten. Der ließ sich eine Tonsur scheren und wurde der erste buddhistische
     Herrscher, der die geistliche und weltliche Macht in seinem Reich vereinte.«
    |155| Decker blickte aufmerksam über den Rand seiner Tasse. »Und diese alte Religion – einfach verschwunden?«
    »Keine Ahnung. In einigen Gegenden waren jetzt jedenfalls die Buddhisten am Ruder.«
    »Und seither herrschte dort Frieden?«
    »Da muss ich Sie enttäuschen.« Der General zog genüsslich an seiner Zigarette. »Jetzt fing die Party erst richtig an. Es begann
     der Konkurrenzkampf der Kleinstaaten und buddhistischen Klöster untereinander. Am Anfang ging es nur um Geld. Es sieht so
     aus, als wären die Äbte recht habgierig gewesen. Aber das war nicht das Schlimmste, denn jetzt kommt jemand aus der Nachbarschaft
     auf den Plan, den wir schon kennen. Zeitlich befinden wir uns im Jahre 1220.«
    »Dschingis Khan«, warf Decker ein.
    »Genau der. Er war dabei, sein Großreich aufzubauen und hatte schon Kaschmir, Nordchina, die Uiguren und Nordiran erobert.
     Und genau das war der Anlass für verschiedene Sektenführer aus Tibet, strategische Allianzen mit den Mongolen anzustreben.
     Zum einen wollten sie Tibet sicher vor der Invasion bewahren   ...«
    »...   zum anderen würde natürlich für die Sekte, die die Verbindung als erste zustandebrachte, die militärische Schlagkraft gegenüber
     den Gegnern im eigenen Land wachsen«, ergänzte Decker.
    »Ich sehe, Sie verstehen langsam. So war es auch. Dem Großabt des Klosters Shaskyas ist dieses Kunststück 1244 gelungen, als
     er den Mongolenkaiser Godan für sich gewann.«
    Decker kamen plötzlich ganz andere Bedenken. »Sagen Sie, Herr General, ist das eigentlich bloß die chinesisch gefärbte Variante
     der Geschichte oder gibt es unparteiische Beweise für all diese Vorgänge?«
    |156| »Wem würden Sie denn gern glauben?«
    »Zeitzeugen vielleicht, die weder tibetisch noch chinesisch sind.«
    »Gut, dann überprüfen Sie doch mal die Reiseberichte von einem der bekanntesten Asienreisenden dieser Zeit. Das ist ein Mann,
     dem Sie sicher vertrauen können.«
    »An wen denken Sie?«, fragte Decker.
    »Marco Polo.«
    Decker schaute verdutzt. Natürlich, der war damals vor Ort gewesen.
    »Und nicht nur der«, ergänzte der General, »von der Anwesenheit tibetischer Äbte und Lehrer in Karakorum, der Hauptstadt des
     Mongolenreiches, berichtet auch der Botschafter von Papst Innozenz IV.«
    Christliche Botschafter in Asien mitten im 13.Jahrhundert! Wer waren sie und warum waren sie dort?
Decker beschloss, jedes einzelne Wort des chinesischen Generals genauestens zu prüfen. Dann hörte er weiter zu.
    »Der Neffe von Saskya, er hieß Phagspa, hat es schließlich geschafft. Er gehörte zu den geistlichen Lehrern von Kublai Khan,
     dem großen Mongolenfürsten und späteren chinesischen Kaiser, und erhielt nach dem Tod seines Onkels 1251 als Vizekönig die
     alleinige Regierungsgewalt über ganz Tibet. So wurde unter mongolischer Oberhoheit offiziell die erste buddhistische Theokratie
     im gesamten Land errichtet. Eine Gottesherrschaft im Namen Buddhas.«
    »Okay, wieder ein Schritt zur Machtkonzentration«, sagte Decker. »Was haben die anderen dazu gesagt?«
    »Tja, wie Sie sich mittlerweile denken können, herrschte keine Ruhe. Die Klöster der zerstrittenen Sekten wurden zu regelrechten
     Festungen ausgebaut, denn es kam zu ständigen Überfällen. So plünderten beispielsweise |157| 1290 die Anhänger der Saskyas das Hauptkloster der Kagyüpas und richteten ein regelrechtes Massaker an. Aber der Widerstand
     war nicht zu brechen. Mit dem Untergang des Mongolenreichs verloren die Saskyas dann ihre Schutzmacht und die Kagyüpas schlugen
     zurück. Sie stürzten die Saskyas in jahrelangen blutigen Schlachten und regierten um 1350 nun selbst.«
    Decker stocherte nachdenklich in den Erdnüssen herum. »Was hat eigentlich China zu der Zeit gemacht?«
    Der General druckste etwas. »Für die in Nanking aufsteigende Ming-Dynastie stellte die Alleinherrschaft einer Sekte in Tibet
     eine Bedrohung dar. China hat es konsequent verstanden, die Klöster und Sektenführer gegeneinander auszuspielen.«
    »Auch nicht die feine

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