Das Tibetprojekt
Seine Heiligkeit anscheinend auch etwas in Verlegenheit gebracht. Er schreibt zu der Machtergreifung
lediglich:
Im Wasser Pferd Jahr, also 1642, erhielt ein Dalai Lama die weltliche Herrschaft über ganz Tibet
.«
»
Erhielt
die Herrschaft?«, lachte Decker. »Sehr elegant.«
»Seine Heiligkeit sieht es eben so.« Der General betrachtete die Glut seiner Zigarette und rauchte mit großem Genuss. »Und
noch etwas hat er mit anderen Tyrannen gemeinsam. Er ließ sich ein Denkmal setzen, wie Tibet und die Welt es bis dahin noch
nie gesehen hatte. Er baute den monumentalen Potala Palast.«
Decker überlegte. Der Potala Palast war damals sicher das größte und mit 117 Metern auch höchste Gebäude der Welt. Nicht gerade ein Ausdruck mönchischer Bescheidenheit. In Reiseführern stand heute romantisierend,
es sei ein in Stein gemeißelter Traum göttlicher Vollkommenheit. Keiner denkt daran, dass er für die steinemeißelnden Arbeiter,
darunter wahrscheinlich Gefangene und Sklaven, ein Albtraum und nicht selten ihr Tod gewesen sein musste. Decker war tief
betroffen über das Ausmaß der westlichen Ignoranz. Eines war jedenfalls klar: Tibet unter den Dalai Lamas war keine Idylle
auf Erden gewesen, sondern ähnelte dem Ägypten der Pharaonen.
»Doktor Decker, Sie sagen ja gar nichts.« Der General schien belustigt.
Decker kam wieder zu sich. »Wie ging es denn weiter?«, fragte er zögernd.
»Nach dem Tod des 5. Dalai Lamas fängt die innere |161| Zerrissenheit wieder an, und jetzt kommt auch China ins Spiel.«
»Peking mischt sich ein.«
»Ja. Aber erst einmal wird es kurios. Der Tod des 5. Dalai Lama wird fünfzehn Jahre lang von einem Regenten verheimlicht.«
»Das wäre ja noch ein Bruch in der Linie der Wiedergeburten.«
»Genau. Der 14. Dalai Lama behauptet in seinen Büchern, es sei auf Anordnung des 5. geschehen, damit die Bauarbeiten am Potala nicht in Verzug
geraten. In Wirklichkeit war dies für den Regenten der beste Weg, seine eigenen Interessen durchzusetzen. Hinter ihm standen
der Adel und Anhänger der alten Kagyüpas. Anscheinend konnte die alte Religion oder die konkurrierenden Sekten die Tugendhaften
bis in die höchsten Positionen hinein unterwandern und sich ungeachtet der äußeren Niederlage intern die Macht im Staat sichern.
Dafür spricht auch, dass der 6. Dalai Lama in einer Familie von Unreformierten entdeckt wurde.«
»Der 6. Dalai Lama ein Anhänger der alten Religion?« Decker strich sich übers Kinn.
Dann hat sie irgendwie bis dahin überlebt
. »Es wird ja immer verrückter.«
»Das hat das tibetische Volk sicher auch gedacht. Denn der 6. war völlig anders als sein gestrenger Vorgänger. Er schrieb
obszöne Liebesgedichte und feierte rauschende Orgien. Tagsüber war er meist besoffen und gab sich nachts mit Huren ab.«
Decker dachte an die Päpste der Renaissance. »Das muss ein Schock für das ganze Land gewesen sein.«
»Vielleicht«, sagte der General. »Es deutet aber noch auf etwas anderes hin. Er war vermutlich überflüssig und hat sein bedeutungsloses
Leben nicht ertragen.«
|162| »Der Dalai Lama nur eine Marionette? Wieso?«
»Weil die Regierungsgewalt in den Händen der Hofschranzen lag.«
»Hat sich denn niemand darüber beschwert?«
»Ja, den Mongolen hat das überhaupt nicht gepasst. 1706 haben sie den 6. Dalai Lama abgesetzt und einen neuen Mann installiert.«
»Ein Gottkönig wird abgesetzt und ein Gegen-Dalai-Lama inthronisiert? Mir scheint langsam, in Tibet tobte der gleiche Wahnsinn
wie in Europa mit dem Kampf zwischen Kaiser und Papst.«
»Warum sollten die Menschen hier anders sein?«
Der Satz hätte von Decker kommen können.
»Sie sagten vorhin, jetzt beginnt die chinesische Einmischung.«
»Richtig. Jetzt nähern wir uns der äußerst komplexen Beziehung zwischen China und Tibet, um die sich Völkerrechtsexperten
bis heute streiten. Alles begann damit, dass wir kein tibetisch-mongolisches Großreich vor unserer Haustür haben wollten.
Also sind chinesische Truppen 1720 in Lhasa einmarschiert, vertrieben die Mongolen, installierten den linientreuen 7. Dalai Lama und errichteten ein Protektorat.«
»Sekunde. China setzte einen Dalai Lama ein? Was haben denn die Tibeter dazu gesagt?«
»Wir haben ja keinen Chinesen auf den Thron gesetzt, sondern einen von ihnen. Außerdem sind die Tibeter Opportunisten und
machen alles mit, solange sie ihre Vorteile darin sehen. Über alles, was danach
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