Das Tibetprojekt
haben gegen diese dämonischen Krieger gekämpft?«
|152| Der General zeigte auf eine Narbe an seinem Hals. »Das war ein Kampa.«
Decker konnte es nicht fassen. Die Legende war also lebendig.
Der General zog erneut eine Zigarette heraus. »Wenn Sie verstehen wollen, warum wir in Tibet einmarschiert sind, dann müssen
Sie die Geschichte kennen. Die wahre Geschichte. Nicht die Märchen, die der Dalai Lama verbreitet.«
»Herr General, bei allem Respekt, bleiben wir bei den Fakten und lassen wir die Propaganda beiseite.«
Der General spuckte einen Tabakkrümel zur Seite. »Propaganda? Das hab ich nicht nötig. Im Gegensatz zum Dalai Lama, der hat
gleich zwei Autobiografien geschrieben, um die brutale Geschichte Tibets in Weihrauch zu hüllen.«
»Sie wollen andeuten, der Dalai Lama betreibt Geschichtsklitterung?«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen. Uns wurde vom Westen immer vorgeworfen, wir würden die Fakten verdrehen. Jetzt hören Sie mir
zu, und dann urteilen Sie selbst über die Glaubwürdigkeit des Gottkönigs und den Pfad des Friedens!«
Decker schenkte sich eine Tasse Tee ein und hörte zu.
»Kehren wir also zu Schrongtsam Gampo zurück. Er gründete das erste tibetische Reich und heiratete die Prinzessin aus China.
Womit er nicht gerechnet hatte: Die schöne Weng Cheng brachte ihm einiges mit. Geschenke, Wissen und Technologien. Vor allem
aber auch eine neue Religion. So wurde Tibet buddhistisch. Das Königshaus jedenfalls. Die Kampas blieben bei ihrer alten,
blutigen Religion.«
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Stopp. Eine alte Religion?
Decker wurde hellhörig und unterbrach ihn. »Was war das für eine Religion?«
»Ich bin Soldat. Kein Theologe. Mich interessiert nur, wer die Macht hat.« Er räusperte sich. »Um den Buddhismus einzuführen,
lud der König jemanden ein, den sie Padmasambawa nennen. Allerdings hätten sie den besser draußen gelassen. Das war ein Machtpolitiker,
wie er im Buche steht. Er gründete das erste Kloster. Wenn ich mich recht erinnere, heißt es Samyas. Und er baute das Mönchtum
auf. Wenn Sie so wollen, legte er den Grundstein für die erste strategische Bastion des Buddhismus auf neuem Territorium.«
»Ich habe den Namen gelesen. Die Tibeter verehren ihn als den Gründervater ihrer Religion. Er ist der wichtigste Heilige ihres
Landes.«
»Dass die den verehren, glaube ich gerne. Er hat schließlich den Grundstein für die spätere Priesterherrschaft gelegt, die
der Dalai Lama heute vertritt. Der König gab den Mönchen Land und stellte pro Kloster Hunderte von Bauernfamilien zu dessen
Unterhalt ab. Die Jungs waren ganz schön clever. Nebenbei bemerkt, bis 1950 gehörte den Mönchen fast das ganze nutzbare Land.
Aber zurück. 830 hatten sie es dann geschafft: Der Klerus hatte zum ersten Mal die Regierungsgewalt in seinen Händen und stellte
den ersten Herrscher aus seinen Reihen. Dieser erste rein buddhistische König in Tibet hieß Ralpacan.«
Decker machte sich Notizen. »Interessant. Ab da herrschten also die Mönche. Was haben denn die anderen dazu gesagt, der Adel
und die alten Priester?«
»Ganz einfach. Sie haben Ralpacan umgebracht, den Besitz der buddhistischen Klöster beschlagnahmt, die Mönche verjagt und
ihren eigenen Mann, Langdarma, auf den Thron gesetzt.«
|154| »Das war also erst mal das Aus für den Buddhismus in Tibet?«
»Da kennen Sie die Brüder aber schlecht. Die Erben Padmasambavas haben zurückgeschlagen und ihrerseits Langdarma 842 ermordet.«
Politischer Mord durch einen Buddhisten! Sollte das Tradition haben?
Decker war ins Grübeln geraten. »Das ist natürlich pikant.«
Der General nickte. »Und das ist erst der Anfang.« Er rückte sich etwas im Sessel zurecht und griff nach einer weiteren Zigarette.
»Nach dem Tod Langdarmas zerbröckelte die politische Einheit Tibets. Die beiden Religionen waren jetzt gleichstarke Gegner
und für Jahrhunderte versank Tibet in Glaubenskriegen und Anarchie. Wir Chinesen waren darüber natürlich sehr erfreut, denn
solange die mit sich selbst beschäftigt waren, hatten wir Ruhe vor ihnen. Sie können sich aber leicht ausmalen, was da los
gewesen sein muss, wenn die alten Krieger sich untereinander zerfleischten. Vermutlich die Hölle auf Erden.«
Decker konnte es nicht fassen, dass buddhistische Mönche zu so etwas in der Lage sein sollten.
Glaubenskriege
. Langsam wurde ihm klar, dass die Schicksalslinie des tibetischen Buddhismus offensichtlich nicht ganz so geradlinig verlief,
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