Das Tibetprojekt
englische Art.«
»Aber umgebracht haben sie sich immer selbst. Außerdem konnte sich damals wohl niemand vorstellen, diese machtbesessenen Lamas
zur Räson zu bringen.«
»Das heißt, es ging immer so weiter?«
»Gut hundert Jahre. Dann passierte etwas sehr Merkwürdiges.«
Decker horchte auf.
»Inmitten dieses Chaos aus Plünderungen, Raubzügen, Umstürzen und Klosterkriegen entstand eine neue Partei, oder besser, eine
neue Sekte. Sie nannten sich Gelugpas, was bezeichnenderweise die Tugendhaften bedeutet. Sie forderten Keuschheit und Disziplin
von den Mönchen, und bis 1409 hatten sie ihre erste große Anhängerschaft um sich geschart und ihr erstes Kloster, Ganden,
gebaut.«
»Das ist doch die Sekte des heutigen Dalai Lama. Haben die es denn besser gemacht als die anderen?«
»Na ja. Auch die wollten möglichst schnell an die |158| Spitze des Staates und erhoben gleich zu Anfang den Führungsanspruch. Ihr erster Boss hieß Tsongkapa, und er schien wirklich
was verändern zu wollen. Er war immerhin der erste, der im Zölibat lebte und nicht wie alle anderen mehrere Frauen hatte.«
»Und?«, fragte Decker. »Hat es geholfen?«
»Nicht viel. Das Mongolenreich zerbrach. Die Gelugpas taten zunächst das Gleiche wie ihre Wettbewerber und gingen nach Karakorum.
1578 nahm Altan Kahn, einer der neuen mongolischen Teilfürsten, offiziell den Glauben der Tugendhaften an. Er war es auch,
der den Namen und den Titel Dalai Lama zum ersten Mal verlieh.«
»Moment, da liegt etwas Zeit dazwischen. Was war mit den ersten beiden Anführern der Gelugpas?«, warf Decker ein.
»Die ersten beiden Gelugpa-Äbte wurden einfach posthum zu Dalai Lamas erklärt und der amtierende war damit plötzlich schon
die Nummer 3«, sagte der General. Er griff nach seiner Tasse und schlürfte hörbar den Tee.
Decker beeilte sich, nachzuschenken. »Aber wenn sie erst nach ihrem Tod zu Dalai Lamas erklärt wurden, wie konnten sie dann
wiedergeboren werden?«, fragte Decker. Es gab wirklich überall Brüche und Ungereimtheiten in dieser Geschichte.
»Ach, bleiben Sie mir doch mit diesen theologischen Spitzfindigkeiten vom Leib«, knurrte der General. »Politisch interessant
ist vielleicht, dass die Nummer 4 der Dalai Lamas in einem Enkel des mongolischen Altan Khan erkannt wurde. Das war ziemlich
clever.« Der General verzog erneut das Gesicht.
Plötzlich durchschoss Decker eine flüchtige Ahnung, eine Art Geistesblitz, aber bevor er sie zuordnen oder halten konnte,
erzählte der General bereits weiter.
|159| »Jetzt kommt das Grande Finale. Der Durchbruch. Der 5. Dalai Lama schmiedete 1642 eine starke Allianz mit Gushri Khan, wieder einem der mongolischen Teilfürsten. Mit dessen Armee
zog er in Tibet ein. Was folgte, stellte alles bisherige in den Schatten. Die Gelugpas wüteten mit unvorstellbarer Grausamkeit
unter ihren Landsleuten. Ihre Gegner waren vor allem die Kagyüpas. Ihre Rache war so fürchterlich, dass ein Flüchtlingsstrom
in die umliegenden Länder Butan, Sikkim und Nepal entstand. Das hatte es bis dahin noch nie gegeben. Das Ergebnis war ein
endgültiger Sieg. Der letzte König der Tsang wurde in einen Sack eingenäht und ertränkt. Damit war der Weg zur Alleinherrschaft
frei. Die Bücher der Widersacher wurden verbrannt, die Klöster der anderen Orden beschlagnahmt, wer sich nicht zwangsbekehren
ließ, wurde getötet. Der tibetische Adel hatte seine Vormachtstellung verloren und die wenigen im Land verbliebenen Kagyüpas
wurden gezwungen, dem Dalai Lama zu huldigen und seine Alleinherrschaft anzuerkennen. Wer gegen die neuen Gesetze verstieß,
wurde geblendet, getötet oder verstümmelt.«
Decker war ehrlich schockiert. »Einen Augenblick. Sind die Dalai Lamas tatsächlich so an die Macht gekommen? Keine Mission,
keine Überzeugung, keine Wahlen, kein Wille des Volkes, nichts dergleichen?«
»Ich weiß nicht, was Sie daran jetzt noch wundert.«
Decker brauchte eine Weile, diesen Sachverhalt aufzunehmen. In seiner Autobiografie und in anderen Büchern schreibt der Dalai
Lama doch immer wieder, dass allein schon die Vorstellung, ein Lebewesen umzubringen, für Buddhisten und Tibeter ein Greuel
sei.
Der General schien seine Gedanken erraten zu haben. »Sie werden jetzt fragen, wie der Dalai Lama die Entwicklung |160| sieht?«, sagte er böse lächelnd. »Nun, der Widerspruch aus buddhistischen Maximen der Gewaltlosigkeit und den Massakern in
den Klosterkasernen hat
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