Das Tibetprojekt
dachte, es wäre ihm darum gegangen, den Imperialisten zuvorzukommen«, sagte Decker, ein bisschen zu lässig.
»Ja, zu Anfang spielte das auch ein Rolle, da haben Sie recht«, sagte der General. »Die Engländer waren an Tibet sehr interessiert.
Noch im Jahre 1904 schickten sie eine Strafexpedition unter Colonel Younghusband bis nach Lhasa. Dieses Problem hatte sich
nach der Unabhängkeit Indiens 1947 zwar erledigt, aber das Wettrennen auf das Dach der Welt hätte noch weiter gehen können.«
Der General machte ein Faust. »Tibetische Geschäftsleute waren nach New York gereist, vielleicht um über die Rohstoffe ihres
Landes zu verhandeln. Amerikaner in Tibet. Das hätte uns gerade noch gefehlt.«
Decker hob eine Augenbraue, als der General sagte: »Doch auch das war letztlich nicht der entscheidende Grund.«
»Sondern, worum ging es denn dann noch?«
Der Ton des Generals wurde süß-sauer. »China ist die älteste Zivilisation der Welt, aber mit all unseren hochentwickelten
Künsten und Technologien, ja selbst mit der chinesischen Mauer haben wir es nicht geschafft, uns gegen die Barbaren zu schützen.
Auch in den Zeiten der |169| größten Prunkentfaltung, als das Reich der Mitte von allen bewundert wurde, waren die Männer auf unserem Thron keine Chinesen.
Es waren Söhne der verhassten Nomaden aus dem Norden und Westen. Und alle blickten auf Lhasa als das geistliche Zentrum der
Welt.«
Decker nickte. Die Einbrüche der Nomadenvölker. Der europäische Imperialismus. Die Erniedrigung durch die Europäer. Die japanische
Grausamkeit und die zahllosen Opfer ihrer Brutalität. Die Chinesen wollten endlich Herr im eigenen Haus sein.
Der General schien zufrieden. »So, jetzt verstehen Sie vielleicht. Als Mao Tse-tung China im Oktober 1949 befreit und geeint
hatte, da hat er vor den Schandmalen der Mongolen und Mandschus innerhalb der verbotenen Stadt geschworen, dass jetzt die
Zeit kommen würde, in der die Chinesen ihr Haupt vor niemand mehr beugen müssten. Deshalb erklärte er bereits in seiner ersten
Rede, dass es das wichtigste und dringlichste Ziel der neuen Volksrepublik China sein musste, Tibet zu befreien.«
Decker nickte skeptisch. »Hm ...«
Der General zischte. »Es war eine Befreiung. Tibet war ein Sklavenstaat, in dem Willkür und Folter das Gesetz waren. Die Lamas
beherrschten die Seelen der Menschen und gleichzeitig ihren Besitz. Maos Entscheidung war richtig!«
Decker schwieg. Es entstand eine lange Pause. Dann besann er sich auf sein eigentliches Vorhaben. »General, jetzt möchte ich
Ihnen eine Frage stellen, von deren Antwort für mich sehr viel abhängt. Wie haben die Tibeter reagiert, als die Chinesen einmarschiert
sind? Es wird behauptet, Lhasa hätte sich nicht militärisch gewehrt und sei den buddhistischen Idealen bis zuletzt treu geblieben.
Es gab keinerlei Widerstand, und der Dalai Lama ...« |170| Decker hielt inne. Er spürte plötzlich, dass er einen Fehler gemacht hatte.
Der General schien mit sich zu ringen. Seine Augen verengten sich wieder und sein Blick wurde finster. Er blickte lange aus
dem Fenster. Sehr lange. Als würde er etwas Gewaltiges überschauen.
Eine Tragödie.
Ein Schlachtfeld voller Leichen.
Verzweifelte Schreie, die im Blut erstickten.
Der Blick des Generals war der Blick eines Menschen, der Unvorstellbares erlebt hatte. Die Hölle. Die Abgründe der Seele.
Schuld. Blinde Wut und Rache.
Dieser Mann hatte das Grauen gesehen. Er war über die Grenze zum Wahnsinn gegangen. Dorthin, wo Menschen nur noch Bestien
sind und sich zerfleischen. Der General hatte das Gesicht des Krieges gesehen.
In Tibet.
Später, als Decker sich an diesen Moment erinnerte, fiel ihm ein, dass seine Frage recht töricht gewesen war. Er wusste ja,
wo die Narbe im Gesicht des Generals herkam. Außerdem hatte ihm der General gerade die ganze blutige Geschichte des Landes
erzählt. Beides hatte er ignoriert. Er hatte den General mit seiner Frage beleidigt. Ein Moment der Unachtsamkeit. Und jetzt
war es vorbei. Der General stand auf und ging durch die Tür hinaus. Ohne ein Wort zu sagen. Er ließ den Deutschen einfach
sitzen.
Erst als der General draußen über das Vorfeld ging, fand Decker wieder zu sich. Er war wie benommen.
»Mist, ich hab’s verbockt. Im wichtigsten Augenblick.«
|171| Eine Tür weiter hinten öffnete sich und Li Mai kam in den Raum. »Was ist los?«
Decker erzählte ihr alles.
Sie sagte: »Das ist
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