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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Kahn
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rissen Stücke aus China heraus. Dann wurde 1911 die Republik ausgerufen, und diese Chance
     hat der 13.   Dalai Lama genutzt. Während in Kanton der ohnmächtige Sun Yat-sen für die chinesische Demokratie kämpfte und China von Warlords
     beherrscht wurde, hat er mit Hilfe der Briten seine Herrschaft in Tibet gefestigt. Er war nicht ungeschickt. Nach allen Seiten
     betrieb er eine Politik der Öffnung und der Reform. Die zeitraubende Etikette bei Hofe wurde gestrafft. Die Armee machte er
     mit westlichen Standards vertraut. In Lhasa entstand eine ständige britische Vertretung und er rief zwei englische Schulen
     und Austauschprogramme für |166| Studenten ins Leben. Stromgeneratoren wurden importiert und die ersten Telegrafen installiert.«
    »Er führte sein bis dahin isoliertes und veraltetes Land also in das 20.   Jahrhundert«, erklärte Decker sich selbst.
    »So ist es. Er versuchte wohl eine Kompromisslösung mit Blick auf England, wie der König von Siam es getan hat. Denn er wusste,
     dass die Engländer Tibet als Pufferstaat für ihre Herrschaft in Indien haben wollten.«
    »Das könnte sein«, sagte Decker.
    »Ja, aber er konnte sein Werk nicht vollenden. 1933 ist er gestorben. Damals war China vom Bürgerkrieg zwischen Tschiang Kai-schek
     und den Kommunisten zerrissen. Beim Langen Marsch haben wir viele unserer Leute verloren. Die Japaner haben uns überfallen
     und haben unsere Leute geschlachtet wie Lämmer. Es war eine schreckliche Zeit.«
    Decker nickte. Das Unglück Chinas in den dreißiger Jahren und die Millionen Menschenopfer waren bekannt.
    »Am 17.   Dezember 1933 starb der 13.   Dalai Lama. In den 17   Jahren bis zu unserem friedlichen Einmarsch im Jahre 1949 brach alles zusammen, was er aufgebaut hatte. Bereits in seinen
     letzten Lebensjahren stieß er mit seinen Modernisierungen auf heftigen Widerstand der ultrakonservativen Religionsoberhäupter
     und Kabinettsmitglieder. Nach seinem Tod begann dann die Restauration. Die ausländischen Schulen wurden geschlossen, die Verbindungen
     gekappt und die Generatoren wieder eingemottet. Seine Arbeit wurde zunichtegemacht.«
    »Tibet hat sich wieder nach außen verschlossen?«
    »Ja. Das war sicher ein großer strategischer Fehler. Aber nicht der einzige. Bis zur Volljährigkeit und Inthronisation des
     jetzigen 14.   Dalai Lama übernahm wie |167| üblich ein Regent die Regierungsgeschäfte. In dieser Zeit kam die Entwicklung des Landes ganz zum Erliegen.« Der General verzog
     verächtlich den Mund. »Man könnte sagen, Tibet erstickte unter der Erblast seiner Geschichte. Der Rest ist schnell zusammengefasst.
     Wie in alten Zeiten folgten Meuterei, Aufstände und Amtsenthebungen. Den vorläufigen Höhepunkt fanden die Ereignisse im sogenannten
     Retingaufstand von 1947.   Niemand geringeres als der Regent und Lehrer des damals noch jungen 14.   Dalai Lama versuchte einen Putsch, scheiterte, wurde hingerichtet und sein Kloster völlig zerstört. Das war Tibet in der Mitte
     des 20.   Jahrhunderts. Jetzt sehen Sie, dass Gegenwart und Vergangenheit eins sind. Es wiederholt sich immer die gleiche Geschichte
     – bis in unsere Zeit.«
    Decker nickte. Er musste dem General zustimmen. »Woher kommt das alles?«
    »Sie kennen die Antwort.«
    Decker schaute den General verwirrt an.
    »Die Kampas.«
    »Ich sehe keinen Zusammenhang.«
    Der General atmete schwer. »Hören Sie jetzt genau zu, Dr.   Decker: Ich verrate Ihnen das Leitmotiv der tibetischen Geschichte. Vergessen Sie von mir aus alle Namen und Jahreszahlen,
     aber folgendes müssen Sie wissen: Die Kampas schauen zwar respektvoll auf Lhasa als heiliges Epizentrum des Universums so
     wie das Abendland auf Jerusalem. Aber sie sehen im Dalai Lama nicht den rechtmäßigen Erben ihres ersten großen Königs, Schrongtsam
     Gampo. Für die Kampas sind die Dalai Lamas bestenfalls Heilige, aber niemals die legitimen Herrscher der tibetischen Welt.«
    Er wartete ein paar Sekunden, ehe er fortfuhr.
    |168| »Verstehen Sie, Dr.   Decker? Die Kampas waren bis dahin immer noch wilde, ungezähmte Krieger, die ihren eigenen Gesetzen gehorchten und vom Wiederaufbau
     ihres alten Großreiches träumten. Hätten sie das geschafft, herrschten heute weder der Kommunismus noch der Buddhismus im
     Inneren Asiens, sondern ein schrecklicher Dämon.«
    Decker schüttelte den Kopf.
Was für eine Idee.
    »Die Welt hat das im 20.   Jahrhundert vergessen«, fuhr der General fort. »Nicht aber Mao Tsetung.«
    »Ich

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