Das Tibetprojekt
damals sein schärfster Kritiker gewesen war.
»Mehr denn je. Wir sammeln gerade Material dafür.«
Decker warf Li Mai einen Blick zu.
Er weicht den Fragen aus. Wie der englische Botschafter.
Es war sinnlos. Decker schwenkte um: »Wissen Sie etwas über die Entstehung der Gelugpas, den Orden der Dalai Lamas?«
»Das können Sie mit dem Erscheinen von Martin Luther vergleichen«, erklärte der Experte sichtlich erleichtert über den Themenwechsel.
»Die Gelugpas heißen schließlich übersetzt ›Die Reformierten‹. Es war wohl eine Gegenbewegung zu den völlig verkommenen Sitten
der damaligen Zeit.«
»Aber wer hat den Orden gegründet, wo kam der Impuls her?«, wollte Decker wissen.
»Sicher von ein paar wirklich gläubigen Buddhisten, die es gut meinten.«
»Ich habe gehört, es war der erste Orden, der das Zölibat einführte. Bis dahin waren die tantrischen Rituale wohl noch gang
und gäbe. Warum hat man den Mönchen den Sex jetzt verboten?«
»Weiß ich nicht. Da muss ich passen.« Long Chang sah zunehmend unglücklicher aus.
»Könnten christliche Einflüsse eine Rolle gespielt haben?«, bohrte Decker weiter.
»Wie kommen Sie darauf?«
|274| »Es waren doch anscheinend Christen in der Gegend.«
»Interessanter Gedanke. Das wäre natürlich eine wilde Geschichte. Aber dafür gibt es keine Beweise.«
Long wischte sich mit der Hand über die Stirn, als hätten ihn Deckers Fragen ins Schwitzen gebracht. »Puh, ich glaube, ich
muss jetzt mal duschen. Hab in zwanzig Minuten eine Vorlesung.« Er grinste etwas weniger breit als zuvor.
»Ja, natürlich, Chang! Vielen Dank für Ihre Hilfe! Bis bald mal wieder«, sagte Decker und winkte dem jungen Mann freundlich
zu. Offensichtlich war die Hilfsbereitschaft des Professors begrenzt.
Ist das nur akademischer Konkurrenzkampf oder wird er auch bedroht?
Als der Bildschirm dunkel geworden war, sprang Decker auf und lief unruhig wie ein sibirischer Tiger in der Kabine herum.
»Wir kommen diesem Tempel des Schreckens einfach nicht näher.«
»Vielleicht finden wir ihn ja in Nepal«, sagte Li Mai.
»Ich hoffe. Wir müssen dort ein Bön-Kloster finden. Eines, in dem der tibetische Buddhismus noch so brutal praktiziert wird,
wie er eigentlich ist. Und wenn wir eins finden, dann glaube ich, werden wir dort noch einiges mehr erleben.«
»Hoffentlich. Hier wird mir nämlich langsam langweilig.« Sie stand auf. »Nach so viel Gerede von Cocktails brauche ich erst
mal einen Drink.« Li Mai lehnte sich über die Theke und griff nach einer Saftflasche. Decker sah, wie sich der Stoff über
ihrem Po spannte. »Ich auch.«
Sie standen zusammen an der Bar und hingen ihren Gedanken nach. Decker hätte den Moment gerne dazu |275| benutzt, die längst fällige Aktion zwischen ihnen beiden einzuleiten, als der Pilot sich über Lautsprecher meldete: »Wir beginnen
den Landeanflug auf Katmandu.«
Noch so eine Unterbrechung, und ich drehe durch
, dachte Decker.
|276| 19
Es war tief in der Nacht. Die Maschine schimmerte im hellen Mondlicht auf dem Flughafen von Katmandu, der Hauptstadt von Nepal.
Nebenan stand das Transportflugzeug. Sicherheitskräfte schirmten beide hermetisch ab.
Der Koch hatte ein chinesisches Essen gezaubert und das Innere der Maschine füllte sich mit feinen Gerüchen. Decker und Li
Mai nahmen sich trotz des Zeitdrucks fast eine Stunde, um das Mahl zu zelebrieren. Zum ersten Mal hatten sie einen ruhigen
Moment, und es entstand eine entspannte Plauderstimmung. Als läge nichts Besonderes vor Ihnen. Li Mai hantierte geschickt
mit ihren Stäbchen und sagte nach einer Weile: »Phil, nebenbei, was ich dich die ganze Zeit immer schon mal fragen wollte
– was ist eigentlich mit diesen ganzen physikalischen Parallelen, von denen die Buddhisten immer reden. Energie und Materie
sind ein und dasselbe?«
Decker schwenkte sein Weinglas und rollte die Augen. »Das Problem dabei ist einfach, sie haben Einsteins Gleichung E = mc 2 nicht ganz verstanden. Die ist nämlich erst bei Energien wirksam, die bestenfalls in Teilchenbeschleunigern vorkommen, aber
sicher nicht im normalen Leben. Da würde uns alles um die Ohren fliegen.« Decker liebte es, wenn sie ihm so zuhörte.
Sie nahm sich aus einer der vielen Schalen eine neue |277| Portion, von der Decker nur raten konnte, was es war. »Aber der Dalai Lama schreibt, dass Teilchen auch Wellen sein können.
Das stimmt doch?«
Decker winkte ab. »Ja, aber das ist ein falsch
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