Das Tibetprojekt
eine Menge geschehen in Sachen Verschmelzung. Aber das Beste kommt noch.« Der
Professor wechselte in einen ironischen Tonfall. »Als der Kangür geschrieben wurde, setzten sich buddhistische Priester und
Bön-Schamanen hinter hohen Mauern in einem Kloster zusammen unter ein Dach. Sie können sich denken, was die da ausgeheckt
haben.«
Decker runzelte die Stirn. »Sie meinen, die Schamanen haben ihren Glauben in den buddhistischen Text eingewebt und so für
alle Zeiten gerettet?«
Long Chang zeigte mit dem Finger auf ihn. »Genau so war es.«
»Aber wieso hat man das zugelassen?«, fragte Li Mai.
»Vielleicht hat man es gemacht, um Ruhe ins Land zu bringen. Vielleicht um sich mit der Bön auszusöhnen. Vielleicht ahnten
die Bön-Schamanen auch, dass sie auf Dauer dem Buddhismus unterliegen würden, und so haben sie ihr geistliches Erbe vor dem
Untergang bewahrt. Warum auch immer, an einem Punkt in der Geschichte |271| flossen Bön und Buddhismus endgültig und unzertrennlich zusammen.«
»Ein heimlicher Fusionsvertrag«, grinste Li Mai.
Decker wurde allmählich echt eifersüchtig. Er konnte doch nicht zulassen, dass dieser junge Spund vor seinen Augen und Ohren
mit seiner Auftraggeberin flirtete. Er wurde wieder ganz sachlich: »Das heißt, jeder, der die Texte des tibetischen Buddhismus
liest und die Mantras rezitiert, betet damit, ohne dass er es weiß, auch die alten Schreckensgötter der Bön an und vollzieht
schamanistische Rituale?«
»Richtig. Er trinkt einen ziemlich verpantschten Cocktail. Da kriegt man leicht Kopfschmerzen.« Der junge Mann lachte wieder.
»Sagen Sie, Chang, gibt es irgendwo noch Anhänger des alten Bön?«, fragte Li Mai.
»Sie meinen, ob der Schamanismus heute, wo Tibet zu China gehört, noch irgendwo praktiziert wird? Hm ... sicher nicht in Reinform. Aber es könnte einen Ort geben, an dem man den tibetischen Buddhismus so ausübt, dass er dem
alten Bön möglichst nahekommt.«
»Wissen Sie, wo das sein könnte?«
»Es müsste in einer Grenzregion sein. Aber wo, das ist schwer zu sagen. Ich würde auf Nepal tippen. Dorthin sind viele Tibeter
geflohen.«
»Und so dicht wie möglich am legendären Kailash?«, fragte Decker grinsend.
»Gute Idee.« Der Professor nickte und dachte laut nach. »Der heiligste Berg des Himalaja. Bis heute aus Respekt vor der Religion
unbestiegen. Er ist der Sitz vieler Götter, auch der Hindus. Und wer weiß, welche Geister noch auf ihm hausen.«
Li Mai schaute Decker verblüfft an. Deshalb also waren |272| sie in diesem Moment bereits dorthin unterwegs! Decker hatte es offenbar schon geahnt.
Jetzt war nur noch eine Frage offen. Die wichtigste. Decker wusste nicht, ob er sie stellen sollte, denn damit legte er auch
die Karten auf den Tisch. Und er war nicht sicher, wer wie viel wissen sollte, weil er nicht wusste, wer hinter den Kulissen
mit wem in Verbindung stand. Immerhin waren zwei Killer hinter ihm her. Aber anders kam er nicht weiter. Er musste also fragen,
was er für den Kern der ganzen Affäre hielt: »Long Chang, haben Sie schon einmal etwas von einem Tempel des Schreckens gehört?«
Das bisher so fröhliche Gesicht des Chinesen verfinsterte sich. »Lassen Sie mich nachdenken.« Er schüttelte den Kopf. »Warten
Sie, ich hol mir gerade mal was zu trinken.« Man sah, wie er aufstand und in der Küche verschwand.
Als er zurückkam, hatte er einen Energy-Drink in der Hand. Er stellte die silberne Plastikflasche so vor die Kamera, als wolle
er Schleichwerbung machen. »Ja, in der Tat«, sagte er nach einem herzhaften Schluck. »Es ist eher eine Legende so wie die
über Schambala oder Shangrila. Das mystische Reich, das es nicht gibt. Auch den Tempel des Schreckens hat niemand jemals zu
Gesicht bekommen.«
»Was ist das denn für ein Tempel?«, insistierte Decker.
»Das weiß keiner. Es ist ein Geheimnis.«
»Aber gegeben hat es ihn wirklich?«
»Vermutlich.« Der Chinese druckste herum.
»Könnte er noch existieren?«
»Nicht sehr wahrscheinlich. Ein bisschen achtet die Regierung schon darauf, dass die Tibeter nicht zu viel Unsinn treiben
in ihren Klöstern.« Der Professor wurde sichtlich unruhig.
|273| Decker ließ nicht locker. »Aber einen muss es noch geben.«
»Ich wüsste nicht wo.« Der Chinese sah zu Decker. »Sagen Sie mal, Phil, glauben Sie eigentlich immer noch an ihre bizarren
Konzepte?«
Decker erinnerte sich in dem Moment daran, dass sein Gegenüber auf dem Kongress
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