Das Tibetprojekt
interpretiertes Experiment der Quantenphysik, in dem Teilchen durch zwei Spalten
gleichzeitig schlüpfen. Wenn man das so einfach von der subatomaren Ebene auf unsere Welt übertragen könnte, dann müsste Ihre
Heiligkeit den Raum auch durch zwei Türen gleichzeitig verlassen können. Wenn er das schafft, hätte er sich einen Nobelpreis
redlich verdient.«
Li Mai lachte laut und Decker genoss den Augenblick.
Li Mai brachte das Thema als erste wieder zur Arbeit zurück. »Wie finden wir jetzt heraus, welches Kloster unseres ist?«
Decker hätte noch ewig mit ihr beim Dinner verweilen können, um einen kleinen Flirt zu starten, aber es schien, als sei das
Vergnügen nun vorbei. Ein wenig widerwillig besann er sich auf die Aufgabe, die vor ihnen lag. »Das ist das Problem. Ich glaube
kaum, dass wir jemanden in der Stadt fragen können. Die alten Hippies in der Freak Road und die neuen Aspiranten, die hier
rumlaufen, haben keine Ahnung von dem, was wir suchen. Und die Lamas in den Klöstern werden es uns bestimmt nicht verraten.«
»Also was machen wir?«
»Ich hatte ja gehofft, Patrick würde uns weiterhelfen können.«
»Wer ist das?«
»Ein großer Freund des tibetischen Buddhismus. Er hat mir in Frankfurt einen Überblick über die Religion gegeben. Ich glaube,
er steht einigen Lamas sehr nahe.«
»Ruf ihn doch einfach an.«
|278| »Ich habe ihm eine Mail geschickt, aber er meldet sich nicht. Sicher ist er mir böse, weil ich an seine Götter nicht glaube.
Ans Handy geht er auch nicht. Ich mache mir langsam Sorgen um ihn.«
»Gib mir mal seine Mobilnummer«, sagte Li Mai.
Decker schrieb Patricks Handynummer auf einen Zettel. »Was hast du vor?«
»Geduld.« Li Mai ging zum Telefon und gab einige Anweisungen auf Chinesisch. Es entstand wohl eine kleine Diskussion, aber
mehr kriegte Decker nicht mit. Am Ende schien Li Mai bekommen zu haben, was sie wollte. Sie setzte sich wieder, um weiterzuessen.
»Also, wo machen wir weiter?«
Der alte Lama verließ seine Zelle und ging durch die verschlungenen Korridore. Seine Erregung wuchs. Jetzt würde er sein Ritual
ungestört durchführen können. Oh, diese Lust. Er sah sich um und versicherte sich, dass ihm niemand gefolgt war. Als er sicher
war, alleine zu sein, zog er einen Schlüssel aus dem Gewand und öffnete die Geheimtür. Zu diesem Ort des Klosters hatten nur
er und seine zwei engsten Vertrauten Zutritt. Eine enge Treppe führte hinab in die finsteren Kellergewölbe.
Decker hatte sich gerade noch ein Stück Fisch mit Zitronengras auf den Teller geladen und freute sich, wie gut er jetzt schon
mit Stäbchen umgehen konnte, als Li Mais Telefon klingelte. Sie nahm das Gespräch an und sah gleich danach Decker grinsend
an.
»Wir haben ihn«, sagte sie, als sie auflegte.
»Wen?«
»Deinen Frankfurter Freund. Und du wirst nicht glauben, wo er sich gerade aufhält.«
|279| »Wie habt ihr ihn denn gefunden?«
»Nicht ihn. Sein Handy«, schmunzelte Li Mai. »Es hat ein wenig gedauert, weil wir erst über den deutschen Mobilfunkbetreiber
gehen mussten, bei dem Patrick Kunde ist. Aber am Ende hat es geklappt. Der globale Kampf gegen den Terror macht vieles möglich.
Internationale Zusammenarbeit. Sobald sich ein Handy irgendwo auf der Welt in einem Netz anmeldet, können die Sicherheitsdienste
herausfinden, wo es ist.« Li Mai zeigte auf die Weltkarte, die an der Wand hing. »Dein Kumpel ist jetzt ungefähr hier.« Sie
machte einen Kreis mit ihrem Zeigefinger.
»Hier in Katmandu?«, sagte Decker verblüfft.
»Nicht direkt. Einige Kilometer außerhalb, Richtung Gebirge.« Li Mai holte eine Karte der Umgebung auf ihren Bildschirm.
Decker dachte einen Moment nach. Das war durchaus möglich. Patrick wollte sich ja in den Himalaja zurückziehen. Und er gehörte
nicht zu den Gelugpas des Dalai Lama sondern zu den Kagyüpas. Patrick wollte auf der Überholspur ins Nirwana. Noch in diesem
Leben. Und die Klöster der Kagyüpas waren meist hier. Decker holte eine Karte der verzeichneten Klöster und verglich sie mit
der von Li Mai. »Hier ist er.« Decker zeigte auf seine Karte. »In genau diesem Kloster.«
»Wie praktisch. Dann statten wir ihm doch einfach einen Besuch ab«, sagte Li Mai.
»Um diese Uhrzeit? Außerdem essen wir gerade«, sagte Decker, plötzlich nervös geworden. »Es ist so gemütlich, mit dir zu Abend
zu essen.«
Aber Li Mai ließ nicht mit sich reden. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.
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