Das Tibetprojekt
existiert. Niemand darf dorthin. Sonst wird alles zerstört.«
»Es ist zu spät«, sagte Li Mai.
Aber Decker wollte nicht aufgeben. »Was genau ist im Gokang?«
Aus den Augen des Schamanen quollen Tränen hervor. »Blut. Schmerz. Tod. Krieg.«
Decker hätte den Kerl am liebsten gerüttelt, traute sich aber nicht, ihn anzufassen. »Was heißt das?«
Fast mitleiderregend sah der Lama Decker an. »Waffen aus unzähligen Kriegen. Waffen aus der Urzeit. Waffen, die älter sind
als Tibet. Waffen, mit denen ganze Völker ausgelöscht wurden. Mächtige Waffen.«
»Was für Waffen?«, herrschte Decker ihn an.
»Totenschädel. Knochen und Masken. Die Reste der Feinde des Bön.« Der Tantriker kauerte sich verängstigt zusammen. »Und Finsternis.
Ewiges Dunkel.«
Decker verlor fast die Beherrschung. »Das soll alles sein?«
Der Schamane nickte. Anscheinend wusste er es nicht besser.
»Aber was ist mit dem Buddhismus?«
Der Körper des Lamas bäumte sich auf. »Keiner von |300| uns hat jemals wirklich an den Buddhismus geglaubt. Wir sind Krieger. Wir sind zum Kämpfen verdammt. Der Buddhismus ist nur
ein buntes Kleid. Aber darunter leben die alten Götter des Bön.« Mit diesen Worten brach der Schamane in sich zusammen.
»Das war’s. Die Vorstellung ist vorbei.« Li Mai zog ihn fort. Decker war noch völlig in Gedanken.
Die alten Götter!
Er wusste jetzt endlich mit Gewissheit, was Hitler und Himmler in Tibet gesucht hatten. Zögernd folgte er den Chinesen aus
dem Raum. Auf dem Weg nach draußen kamen sie wieder an dem Meditationsraum vorbei. Decker blickte sich erneut nach der rätselhaften
Statue um. Er hatte inzwischen viele Abbildungen solcher Statuen gesehen, aber keine war so ergreifend wie diese. Und in den
offiziellen buddhistischen Büchern tauchte sie nirgendwo auf. Natürlich nicht.
»Li Mai, sieh mal. In dieser Statue ist die gesamte Mythologie der tibetischen Kultur enthalten. Sie ist zeitlos ...«
»Wir müssen hier weg«, rief Li Mai. »Wenn sie dir so gefällt ...« – sie nahm die Statue kurzerhand vom Sockel und drückte sie Decker in die offenen Arme – »... nimm sie doch einfach als kleines Souvenir mit. Aber komm jetzt, wir müssen weiter.«
Draußen war die Lage unverändert. Die Mönche saßen immer noch im Kreis. Li Mai gab das Zeichen zum Aufbruch und sprang ins
Cockpit. Die Soldaten positionierten sich in den offenen Hecktüren und hielten die Mönche weiter in Schach. Als der Hubschrauber
abhob, standen sie schlagartig auf und rannten auf die Maschine zu. Li Mai drehte den Heckrotor in ihre Richtung, und sie
schraken zurück. Sie lachte. Dann zog sie an der Pitch und der Helikopter stieg auf.
|301| 20
Während des Rückflugs wurde es langsam hell. Am Horizont schimmerten die Spitzen der schneebedeckten Achttausender rötlich
im Licht der aufgehenden Sonne, und Decker schaute auf den Steuerknüppel.
»Darf ich mal?«, fragte er sehnsüchtig.
»Bitte sehr«, sagte Li Mai. »Solange du uns hier draußen nicht abstürzen lässt. Ich habe keine Lust, als Ehrenjungfrau in
einem Kloster zu landen!«
»Keine Bange«, sagte Decker. »Das würde ich niemals zulassen.«
Er übernahm die Maschine und probierte ein paar kleine Manöver. Es dauerte nicht lange, bis er sich an die Maschine gewöhnt
hatte. »Stark!«, sagte er, als er Richtung auf Katmandu nahm.
Plötzlich tippte ihn Li Mai an und sagte über die Interkom: »Ich habe gerade einen Funkspruch erhalten. Wir haben deinen Freund
gefunden.«
Decker sah sie verblüfft an. »Was?«
»Den Jungen aus Frankfurt. Ich hatte vorhin im Hauptquartier angefragt. Mit dem ersten Licht des Tages haben unsere Satelliten
seinen Wagen entdeckt. Es sieht so aus, als sei er unterwegs Richtung Tibet. Wir haben ihn gleich hier auf dem Bildschirm.«
Der Monitor in der Pilotenkanzel flackerte kurz, dann |302| erschien eine weiße Fläche. Ein schwarzer Punkt bewegte sich über den Schirm.
Der Jeep raste in wilder Fahrt die unbefestigte Schotterpiste hinauf. Patrick standen die Tränen in den Augen. Er sah kaum
etwas. Er fuhr viel zu schnell auf der steinigen, engen Pass-Straße. In seinem Kopf vermischten sich die Bilder der Nacht
mit den Träumen, die ihn hierhergebracht hatten.
Die Mönche hatten ihn betrogen. Ihm was vorgemacht. Sie hatten die Triebe gar nicht im Griff. Der tibetische Buddhismus war
vielleicht eine einzige große Lüge. Der Schmerz seiner Seele übermannte ihn. Wozu sollte er jetzt
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