Das Tibetprojekt
woraus wir bestehen, was wir sind. Er ist der Kampf. Der Sieg. Die Energie.«
Li Mai blickte Decker an: »Damit dürften sich dann wohl alle Vermutungen bestätigt haben.«
»Ja«, sagte Decker. »Der Bön existiert tatsächlich noch heute!«
Damit blieb nur noch eine Frage zu klären. Decker wandte sich erneut an den Lama: »Was ist der Tempel des Schreckens?«
Den alten Schamanen verließ seine Gleichgültigkeit. Er wurde unruhig und begann sichtbar zu zittern. Seine Muskeln spannten
sich an, und es sah aus, als wollte er sich wehren. Der Soldat legte ihm vorsichtshalber seine Hand auf die Brust und drückte
ihn an die Wand. Decker sah dem Lama fest in die Augen. »Du weißt also, wovon ich rede! Wo befindet er sich? Und warum wird
er so genannt?«
In der Seele des Lamas tobten letzte innere Kämpfe. |297| Aber das plötzliche Erscheinen der Kriegsgötter in seinem Kloster während der Meditation und die Entführung des Mädchens,
das seine männliche Kraft im Mund hatte, führten zur völligen Selbstaufgabe und Resignation. Er war verloren. Und dann spürte
er da noch ein seltsames Gemisch in seinem Körper, das ihm die Beherrschung seiner Worte schwer machte und den Widerstand
in ihm brach. Er flüsterte ein einziges Wort: »Go ...«
Er stemmte sich mit seinem Restwillen gegen die zweite Silbe. Ein Wort, das er bei seinem Leben geschworen hatte niemals jemandem
zu sagen, außer seinem engsten Schüler, der die Linie der wahren Lehre fortführen würde. Ein Wort, das zugleich das größte
Geheimnis war und enthielt, das es in Tibet gab. Ein Wort, das unter keinen Umständen jemals an die Ohren von Fremden gelangen
durfte. Aber der Lama war nicht mehr in der Lage, seinen Geist zu kontrollieren. Er wusste, dass er sich selbst damit verfluchte
und seine Seele für immer im leidvollen Leben gefangen bleiben würde. Niemals würde er ins Nirwana gelangen. Aber er konnte
es nicht mehr verhindern. So sprach er es aus und verriet damit sich, seine Götter, den Dalai Lama und sein Land.
»... kang.«
Decker und Li Mai rückten näher an ihn heran. »Sag das noch mal.«
»Go ... kang ...«, kam es unter Qualen.
»Gokang?«
»Der Tempel des Schreckens ...«, gurgelte der Schamane mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Es ist ein ... Gokang.«
Der Lama sah den Soldaten an. Im Gegenlicht und Rauch erkannte er ihn nur als Schatten. Aber er sah auch den roten Lichtstrahl,
der von dem schwarzen Krieger |298| ausging und ihn auf der Brust traf. Genau, wie es in den alten Texten stand und wie er es sich immer vorgestellt hatte. Seit
Jahrzehnten. Und jetzt war es Wirklichkeit. Es war alles aus! Die Kriegsgötter waren hier. Bei ihm.
»Was ist der Gokang?«, fragte Decker ungeduldig.
Der Lama neigte langsam den Kopf hin und her. Sein Mund arbeitete, ohne dass er es verhindern konnte. »Der Gokang ist das
Ende allen Seins. Im Gokang gibt es kein Licht. Die Kräfte sind aus dem Gleichgewicht ...«
Decker wusste, dass er keinen sinnvollen Vortrag erwarten konnte, aber es reichte nicht. »Gibt es noch einen Gokang?«, fragte
er.
Der Lama sprach wie im Delirium. »Ja ...«
»Wo?«
Krämpfe schüttelten den Schamanen. Dann stammelte er: »Tief unter der Erde. Von dort können die bösen Geister nicht ausbrechen.«
»Sag uns, wo sich der Gokang befindet!«
»Überall und nirgends.«
»Verdammt. Das genügt nicht!«, zischte Decker angespannt.
Der Lama biss die Zähne zusammen. »Niemand weiß es.«
Li Mai hielt Decker am Arm. »Er kämpft gegen unser Serum, aber er weiß es wirklich nicht. In wenigen Minuten wird er kollabieren.
Nutze die Zeit.«
Decker wandte sich dem Gefangenen zu. »Also gut. Erzähl mir mehr über den Gokang.«
Mit schwerem Atem, fast röchelnd stammelte der Lama: »Es ist der Ort der Verlorenheit. Ohne Gnade. Die Urkräfte wurden getrennt.
Das Schaffen wurde von dort entfernt. Nur Geister hausen im Gokang. Nicht aber die Geister der Schöpfung. Das ist gefährlich.
Niemand |299| darf dorthin. Der Kosmos wurde aus dem Gleichgewicht gebracht. Man hat versucht, die bösen Dämonen einzusperren, in einem
Verlies, weil man nur die guten Dämonen, die Beschützer auf der Welt haben wollte. Aber so ist das Leben nicht. Es gibt immer
zwei Seiten. Man darf sie niemals trennen.«
Der Gokang war die Antwort! Die ganze tibetische Kultur war darin gefangen. Davon war Decker jetzt überzeugt.
»Ich frage noch mal, wo ist der Gokang?«
»Er
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