Das Tibetprojekt
gegangen. Er hatte alles hinter sich gelassen. Alles umsonst.
Er hatte nichts zu essen und trinken mitgenommen. Er konnte Schnee essen, mehr gab es hier nicht. Aber hier würde er nachdenken,
hier in der unberührten Natur. Hier würde seine Seele den Körper verlassen und Erleuchtung finden. Patrick saß aufrecht, schloss
halb seine Augen und verharrte lange in tiefer Meditation.
Was die Menschen aus der Religion gemacht hatten, war ein Verbrechen. Aber jetzt würde ihn nichts mehr ablenken und niemand
würde ihn betrügen. Hier oben, wo die Welt ganz einfach und klar war, würde er finden, wonach er immer gesucht hatte: Erlösung.
Seine Knochen schmerzten, aber er ignorierte es. Die Luft war dünn. Sehr dünn, und sein Gehirn hatte weniger Sauerstoff, als
es brauchte. Er merkte es nicht.
Die Kälte kroch in ihm hoch. Aber er besann sich auf die Erzählungen der Tibeter von der inneren Hitze. Und blieb sitzen.
Tiefer und tiefer versank er im Dunkel der inneren Seele, immer auf den imaginären Lichtpunkt der Meditation konzentriert.
Der Kältetod begann sein schleichendes Werk. Sein Körper zog das Blut in den lebenswichtigen Organen zusammen, und die Glieder
wurden eiskalt. Er fühlte sich schwer wie Blei. Sein Bewusstsein schwand mit den Minuten dahin. Er sehnte sich nach der inneren
Ruhe. |306| Dem Frieden. Und er vernahm die Stille. Die magische Stille des Hochgebirges. Die Stille einer Seele auf ihrem letzten Weg
in die Unendlichkeit.
Dann sackte er in sich zusammen und kippte vornüber in den weichen Schnee. Ein paar letzte Gedanken funkelten in der schwarzen
Nacht, die sich in ihm ausbreitete.
Eine der Wahrnehmungen am Rande seiner Bewusstlosigkeit war sonderbar und gehörte hier nicht hin, nicht in diese Ruhe. Aber
er konnte damit nichts mehr anfangen.
Für einen Augenblick bäumte sein Körper sich noch einmal auf, und er spürte Todesangst. Der Überlebenswille verlangte, er
solle kämpfen. Aber die Kälte war schon weit fortgeschritten und lähmte die Gliedmaßen.
Von außen spürte er ein fernes Vibrieren in der Luft, während seine Ohren von feinen Schneeflocken zugedeckt wurden. Kaum
wahrzunehmen. Dann verschwand das Geräusch. Kam wieder. Es schien irgendwo um ihn zu kreisen. Ein leises Brummen. Mal nah.
Mal fern. Ein letzter Funken von Sehnsucht kam in ihm auf.
Hilfe!
Dann senkte sich die Nacht über ihn ... und er gab seine Seele auf.
Seine Augen allerdings arbeiteten immer noch treu weiter, auch wenn ihre Signale von niemandem mehr aufgenommen wurden. Ein
Auge sah nur den leuchtenden Schnee, in dem es ganz versunken war. Das andere übermittelte ein seltsames Bild.
Hinter dem Rand des kleinen weißen Hügels, nicht weit entfernt, stieg etwas Dunkles empor. Das Auge nahm es wie in Zeitlupe
wahr. Zentimeter um Zentimeter wurde das Dunkle breiter. Es schien Mühe zu haben, höher zu steigen. Dann schwebte es in voller
Größe über dem Hügel |307| . Schnee wirbelte auf und erschwerte die Sicht. Aber das Auge erkannte noch etwas: Hinter spiegelnden Windschutzscheiben waren
die Umrisse zweier Menschen erkennbar. Das Auge sah instinktiv dorthin, wo es den Kontakt zu anderen Augen sucht. Es sah aber
nur schwarzes Glas, das zu ihm hinschaute. Dann sah das Auge, wie sich an der Seite des schwebenden Ungetüms eine Schiebetür
öffnete und ein weiterer schwarzer Helm auftauchte. Der Mann sah prüfend unter sich. Das endgültig letzte Bild, das sein Auge
nach innen sendete, war ein Mensch an einem dünnen Seil, der einige Meter von ihm entfernt zur Erde hinabsank ... Dann stellte es seinen Dienst ein.
Aus der unendlichen Ferne des Nichtseins drang ein leichtes Turbinengeräusch an das versunkene Bewusstsein und drängte darauf,
beachtet zu werden. Minutenlang, wie beim Erwachen aus tiefstem Schlaf, fand das Geräusch zu der Illusion dessen, was man
Ich nennt. Und das den Namen Patrick trug. Er, der sich dem Tod ergeben hatte, verstand nicht.
Stimmen kamen hinzu. Eine davon kannte er. Dann schlug er die Augen auf. Das erste Bild, das die nun wieder arbeitenden Sinne
ihm darboten, war das Gesicht von Decker. Er sah ihn mit warmen Blicken an. Zwei unbekannte Gestalten in schwarzen Kombis
saßen daneben und schauten besorgt auf Monitore und Anzeigen und prüften Schläuche, die an seinem Arm hingen. Patrick war
völlig umnebelt und kam nur schleppend zu sich. Widerwillig. Er glaubte ein Mädchen zu sehen, das dem aus dem Kloster
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