Das Tibetprojekt
beruhigen. Es stand unter Schock und war anscheinend betäubt worden. Sie wickelte das arme Kind in
einen der Tankas und übergab es einem der Soldaten. Dieser legte sich die Kleine über die Schulter, nahm sein Gewehr in Anschlag
und verschwand durch die Tür.
|294| »Er bringt sie zum Hubschrauber«, erklärte Li Mai. »Wir nehmen sie mit zurück. Im Flugzeug sind Ärzte, die sich um sie kümmern
werden.«
Dann blickte Li Mai auf den Boden. »Nun zu unserem Freund hier.« Sie gab dem zweiten Soldaten ein Zeichen. Er setzte den Lama
auf eine der schmuckvollen Kisten und rüttelte ihn wach. Als der Mönch, an die Wand gelehnt, noch mit kreisendem Kopf und
halb abwesend nur schwer zu sich kam, griff der Soldat in seinen Kampfanzug. Er fand einen langen dünnen Gegenstand, so groß
wie ein Filzstift, und rammte ihn in den Arm des Lamas. Es war eine der Spritzen, die mit einem Schlag appliziert werden können.
Der Lama kam jetzt schnell wieder zu sich, und es sah nicht so aus, als würde er sich weiterhin widersetzen. Decker wollte
lieber nicht wissen, was die Spritze enthielt.
Decker und Li Mai sahen sich den Mann lange an. Es war eine völlig verwitterte Gestalt, in deren Gesicht der Wahnsinn seine
Spuren hinterlassen hatte. Der Lama hatte lange zerzauste Haare und wirkte innerlich und äußerlich verwildert. Li Mai untersuchte
seine Augen und sagte zu Decker: »Du kannst ihm jetzt Fragen stellen. Er wird die Wahrheit sagen.«
Decker machte sich bewusst, dass er hier einen wirklichen Schamanen vor sich hatte. Ein Relikt aus der Vergangenheit, das
überlebt hatte. Diese verwilderte Gestalt verkörperte einiges von dem, was der Bön einmal war. Er war Träger der legendären
alten Religion, die Decker suchte. Wahrscheinlich war gar nicht vorstellbar, was in seinem Kopf vorging. Aber er kannte sicher
einige Geheimnisse.
Decker machte einen Schritt auf den Schamanen zu und blickte ihm in seine verrückten Augen. Es war ihm |295| selbst fast unheimlich, einem Boten der Vergangenheit so nahe gegenüberzustehen.
»Was weißt du über den Bön?«
Der alte Schamane saß völlig regungslos da. In seinen Augen spiegelte sich die Ewigkeit. Er sagte eine Weile nichts. Dann
antwortete er mit langsamer, erschütternder Stimme: »Der Bön ist hier.«
Decker und Li Mai hielten den Atem an. Der alte Schamane bewegte kaum seine Lippen, als er fortfuhr. Es schien fast, als würde
ein Geist durch ihn sprechen. »Die Dämonen vom Anfang aller Welten. Niemand kann sie besiegen.«
Decker schauderte bei diesen Worten.
Wenn dieser Irre und Professor Long Chang recht haben sollten ...
Der Lama sah aus, als würde er ein unendlich weites Land überschauen. Er sprach im Delirium. »Durch die Jahrhunderte hindurch
tobten heilige Kriege in Tibet. Dynastien kamen und gingen. Der Kreislauf des Werdens und Vergehens zog über das Land. Immer
und immer wieder. Aber die ewigen Götter wurden nie gestürzt. Niemals. Viele haben es versucht. Aber keiner hat es jemals
geschafft. Sie alle bezahlten mit ihrem Leben.«
Li Mai sah den alten Tantriker fassungslos an. Dieser sprach nun unaufhörlich. »Der Bön ist der Tod und das Leben. Der ewige
Bön erzeugt Leben und richtet es hin. Er wurde erschaffen von Kriegern und er bringt Krieger hervor. Der Bön ist Schöpfung.
Er bringt Neues hervor und vernichtet es. Das war immer so. Und das wird immer so sein. Der Bön kann nicht vergehen, denn
er ist der Lauf der Dinge und der Welt. Er ist in jedem Baum, in jedem Stein. Er ist in der Luft. Er ist im Wasser, in den
Tieren und in den Menschen. Er ist die Essenz der Schöpfung und der Zerstörung. Er ist das Überleben, der Atem |296| der Vernichtung und die Geburt. Der Bön ist die Kraft des Universums. Er ist Stärke. Er ist gewaltiger als jedes Königreich.
Der Bön ist das, was der Mensch von Anbeginn seiner Existenz an war. Der Bön ist die Macht. Seine Dämonen sind das, was von
uns übrig bleibt, wenn alle Schichten des Geistes und des Körpers abfallen. Der Bön ist unser wahres Wesen. Solange noch ein
Mensch über diese Welt schreitet, solange noch ein Mensch stirbt und ein neuer entsteht, solange gibt es die zeitlose Wahrheit
des Bön. Er ist die Natur der Menschen. Der Bön ist ein ewiger Kreislauf. Er ist die Essenz des Lebens, jenseits aller Vergeistigungen.
Er ist die Substanz aller Wesen. Er kann nicht vernichtet werden, denn er hat keine Zeit, keine Form und keinen Ort. Er ist
das,
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