Das Tier
sich an das Tier. „Das bist du doch nicht, oder?“
„Ich habe gemordet, um Morde zu verhindern“, sagte Thars leise. „Ich habe keine Wahl in dieser Sache. Wenn ich Schlechtigkeit und Mordlust an einem Menschen wittere, überkommt mich der rote Zorn. In diesen Momenten bin ich nicht mehr Herr meiner Selbst.“
„Du bist nicht böse.“ Cyrian biss trotzig die Zähne zusammen. Doktor Lerome räusperte sich und brachte sich damit in ihre Erinnerung zurück.
„Ich bin dafür, dass wir Thars erst einmal in meine Kutsche helfen und anschließend operiere ich ihn. Und da die Stadtgarde nicht gerade zu meinen Freunden zählt, muss ich sie auch nicht unbedingt in meinem Haus haben.“
„Würden Sie mich mit zurück in die Stadt nehmen?“, fragte Cyrian etwas ruhiger. „Und kommen Sie trotzdem weiter in die Rotenbachstraße? Auch wenn meine Nase gebrochen ist?“
Zwei Paar Augen starrten ihn erstaunt an.
„Ja, willst du nicht bei deinem Freund bleiben?“, erkundigte sich Doktor Lerome verwundert.
„Ich … ich darf mit?“ Cyrian blieb der Mund offen stehen.
„Du wirst dir Kost und Logis erarbeiten müssen“, warnte ihn der Doktor. „Und für Thars gleich mit. Du kannst mir bei den Krankenbesuchen helfen.“
„Das wird bestimmt blutig“, murrte Cyrian.
„Ich habe übrigens gehört, dass es Erdbeeren zum Abendessen geben wird“, sagte der Doktor leichthin und half Thars beim Aufstehen. „Hast du schon einmal Erdbeeren gegessen, Cyrian? Süß und saftig sind sie …“
Er war bereits überredet und eilte an Thars’ Seite, um sich dessen Arm um die Schultern zu legen und das Tier ebenfalls zu stützen. Gemeinsam bewegten sie sich im Humpelschritt zu der Kutsche, wo Bantiez neben dem Pferd wartete.
„Gut, dass wir den Landauer und nicht den Gig genommen haben“, sagte Doktor Lerome mit einem schrägen Blick auf Thars’ hochgewachsene Gestalt.
Er konnte kaum den Blick von Cyrian wenden. Der Junge hatte sich an dem massigen Körper seines Freundes geschmiegt, den Kopf auf dessen unverletzten Bein gebettet, und schlief selig. Nicht einmal das Geruckel und Holpern der Kutsche auf der unbefestigten Straße konnten ihn stören. Das Tier hatte ebenfalls die Augen geschlossen, doch trotz der hohen Dosis Laudanum, die Lerome ihm verabreicht hatte, blieb es wach. Bei jeder Regung des Jungen wandte es sofort den Kopf und sah auf seinen Schützling herab.
Lerome riss sich gewaltsam zusammen und starrte auf den Boden. Es war ihm unmöglich, Cyrian anzuschauen und nicht daran zu denken, wie er den Jungen missbraucht hatte. Jedes Mal, wenn er aus der Rotenbachstraße zurückkehrte, schwor er sich, es niemals wieder zu tun. Aber keine drei oder vier Wochen, und die Sehnsucht nach Cyrian wurde übermächtig. Wann war er so tief gesunken, dass er sich zu Kindern hingezogen fühlte? Schon sein Begehren von Männern war höchst riskant, in ihrer prüden Gesellschaft wurde es als Verbrechen betrachtet. Jahrelange Kerkerhaft, Straflager, Einweisung ins Irrenhaus oder sogar der Tod, all diese Strafen waren möglich. Es lag allein in der Hand des jeweiligen Richters. Über zwanzig Jahre lang hatte Lerome es geschafft, diskret und unentdeckt Liebesdiener aufzusuchen. In den Armen eines Fremden seine Lust zu befriedigen war erbärmlich genug, doch es half ihm, ein glückliches Leben als anerkannter Arzt und stadtbekannter Wohltäter zu führen. Er hatte stets gut gezahlt und darauf geachtet, gesunde und vor allem erwachsene Männer zu wählen. Vor knapp einem Jahr war er wieder einmal auf der Suche nach käuflicher Liebe gewesen, als ihm Cyrian ins Auge fiel ...
Einen guten Mann hatte das Tier ihn genannt. Ihn, einen widerlichen Kinderschänder!
„Er ist kein Kind mehr“, flüsterte das Tier plötzlich. Lerome zuckte zusammen und bemerkte, dass es ihn aufmerksam beobachtete. „Er ist etwa zwanzig. Es ist nicht Ihre Schuld, dass diese Welt nicht gestattet, frei zu lieben. Cyrian war immer dankbar, Sie zu sehen und das nicht nur, weil es in der Mietkutsche wärmer und bequemer als auf Hinterhöfen und in dunklen Gassen ist.“
Die Worte des Tiers ließen Lerome erschaudern. Wie konnte es sein, dass es allein mit seinen Sinnen solche Details von Geschehnissen wahrnehmen konnte, die so weit in der Vergangenheit lagen? Die ihm selbst nicht bewusst waren? Unbegreiflich, diese Gabe! Er war ein offenes Buch, das Tier konnte alles von ihm lesen!
„Es ist ein Fluch, keine Gabe.“ Das Tier stöhnte gedämpft, es
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