Das Tier
gelegentlich, als Doktor Lerome zu Werke ging. Zumindest schien er keine starken Schmerzen zu leiden. Cyrian schaute nicht hin, was die beiden Männer dort taten, um die Kugel zu entfernen. Sie arbeiteten ruhig und schnell, schon bald sagte der Doktor triumphierend: „Da ist sie ja!“
„Hörst du? Gleich ist es geschafft“, flüsterte Cyrian und strich über Thars’ schweißbedecktes Gesicht, ohne die Maske loszulassen.
Als Marwin sie ihm abnahm und den Lachgasbehälter fortstellte, wagte er einen ersten Blick zu Thars’ Bein. Es war dick mit Verbänden umwickelt und schaute gar nicht furchterregend aus. Cyrian blieb stehen, wo er war, sprach leise auf Thars ein und versuchte, niemandem im Weg zu sein, während die Männer alle Instrumente forträumten. Nach etwa einer Viertelstunde war Thars wieder ganz bei Sinnen. Ihm war offenkundig übel und er litt Schmerzen, dennoch lächelte er tapfer und schien sich zu freuen, dass Cyrian bei ihm war. Marwin brachte derweil einen seltsamen Stuhl auf Rädern heran, in den sie Thars mit vereinten Kräften hineinbugsierten. Cyrian musste dabei das verletzte Bein halten, damit es möglichst wenig bewegt wurde. Eine Decke verhüllte Thars’ Blöße, als er völlig mühelos aus dem Raum herausgerollt wurde, auch wenn Thars nur so gerade eben noch in den Stuhl hineinpasste. Wie praktisch diese Erfindung war! Ein paar Türen weiter befand sich ein Krankenzimmer mit einem Bett, in das sie Thars mühsam ablegten. Anschließend war Cyrian in Schweiß gebadet vor Anstrengung und seine Muskeln zitterten. Liebesdienste waren irgendwie einfacher …
Eine Hand legte sich auf seine Schulter.
„Du kannst dich gleich zu ihm setzen, ich muss deinem Freund aber erst einmal ein Mittel gegen die Schmerzen geben und das Bein ordentlich lagern. Hilf bitte derweil Marwin beim Säubern des Behandlungsraumes.“
Ohne Widerspruch fügte sich Cyrian der Anweisung des Doktors. Marwin war ein schweigsamer Mann von der ruhigen, unauffälligen Art. Er zeigte Cyrian, wie die Instrumente gereinigt wurden und ließ ihn das Blut vom Behandlungstisch und dem Boden schrubben. Eine unangenehme Aufgabe, die er trotzdem mit Eifer übernahm. Er musste alles richtig machen, dann durfte er vielleicht tatsächlich bleiben, bis Thars wieder gesund war!
Thars schreckte hoch. Im ersten Moment wusste er nicht, was ihn geweckt hatte, doch als er Cyrian und Doktor Lerome witterte, ließ er sich beruhigt zurück in das Kissen zurücksinken. Es war früher Morgen, wurde ihm mit Blick aus dem Fenster klar. Die Sonne schien und umschmeichelte mit ihren Strahlen Cyrians schlanke Gestalt, der in einem Sessel mehr kauerte als lag und leise vor sich hinschnarchte. Er war frei! Kein Kerker. Keine Dunkelheit. Kein betäubender Gestank von Schuld und Grausamkeit, der aus sämtlichen Verliesen auf ihn eingedrungen war, bis es ihn fast den Verstand gekostet hatte. Keine Kette um seinen Hals und allen Gliedmaßen. Stattdessen Frühlingsduft, blauer Himmel, Leben und Frieden. Solch ein Glück bescherte ihm der Schöpfer! Überwältigt begann Thars still zu weinen, bis er eine Bewegung wahrnahm.
„Mir geht es gut“, versicherte er Doktor Lerome rasch, der bereits das Laudanum-Fläschchen zur Hand hatte. „Die Schmerzen sind unwichtig. Ich bin bloß froh, so froh …“
Seine Stimme klang rau und kratzig. Das war normal, hatte er sie viel zu lange nicht mehr benutzt. Seltsam hingegen war das Gefühl beim Sprechen. Thars hob die Hand und strich über seine Wangen. Der Bart war fort! Und sein Haar auf zwei Fingerbreit eingekürzt. Endlich durfte er sich wieder als Mensch fühlen! Oder zumindest menschenähnlich.
„Es tut mir leid.“ Doktor Lerome räusperte sich unbehaglich, der seine Mimik offenbar fehldeutete. „Sie hatten ganze Kolonien von Läusen ein Zuhause gegeben, die wollte ich hier nicht mit durchfüttern. Zum Glück sind meine Zotteln zu kurz, als dass ich von Flüchtlingen hätte überrannt werden können. Cyrian hingegen durfte sich von der Köchin mit Essigwasser und Läusekamm traktieren lassen.“
Thars schwieg schuldbewusst. Ihm war klar, dass er nichts dafür konnte, trotzdem tat es ihm leid, wie viel Arbeit und Unannehmlichkeiten er allen Leuten brachte.
„Fühlen Sie sich stark genug, Ihre Geschichte zu erzählen? Möglicherweise können Sie verstehen, dass ich vor Neugier brenne … “
Seufzend setzte Thars sich auf. Die Wundheilung hatte begonnen, obwohl er nach wie vor sehr schwach war und
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