Das Titanic-Attentat
Mordes, denn dem Mann den einen freien Platz zu verweigern, wäre ein derart offensichtlicher Gewaltakt, dass man kaum noch von Fahrlässigkeit würde ausgehen können. Auch die Boulevardmedien wären voll mit dieser menschlichen Monstrosität.
Oder ein noch kürzeres Beispiel: Jemand hätte das Hotel in Brand gesteckt und versperrte nun den reichsten und mächtigsten Gästen den Weg nach draußen. Bill Gates, Steve Jobs und Warren Buffet kämen dabei ums Leben. Wäre das normal? Würde man danach nicht nach dem Warum und Wieso fragen? Und ob! Nach dem »Massaker« unter Amerikas reichsten Männern an Bord der
Titanic
aber nicht.
Die Kakophonie um die
Titanic
saugte diese schillernde Monstrosität einfach auf wie ein Schwamm. Sie wird als eine von vielen erzählt, ohne dass irgendjemand groß Notiz davon nimmt. Es bleibt aber unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Tötung – vielleicht sogar Mord. Denn was sehr wichtig ist: John Jacob Astor wurde die Rettung ja nicht nur ohne jeden ersichtlichen Grund verweigert, sondern er wurde sogar entgegen äußerst triftiger Gründe nicht an Bord des Rettungsboots gelassen. Alle Argumente, sofern welche angegeben wurden, ihn nicht mitzunehmen, waren null und nichtig. Und das kann nur heißen, dass wir den wahren Grund noch nicht kennen.
Auch nach Meinung von Hinterbliebenen anderer
Titanic
-Opfer konnte »die Tatsache, dass Passagieren der Zugang zu den Booten verwehrt wurde … nicht mehr als fahrlässig, sondern vielmehr als vorsätzlich betrachtet werden«. [180] Also als Mord.
Während laut der oben gezeigten Tabelle an Steuerbord immerhin mindestens 46 Männer an Bord der Rettungsboote gelangten (Boote, deren Insassen nicht nach Geschlecht aufgeschlüsselt wurden, nicht mitgezählt), schafften es an Backbord, wo sich die Kabinen der meisten Milliardäre befanden – wenn überhaupt –, nur ein bis drei männliche Passagiere an Bord eines Rettungsboots, insgesamt auf dieser Schiffsseite nur zehn.
Drei Zeugen und eine Leiche
Was geschah nun weiter mit den Astors? Nun, die schwangere Madeleine fuhr mit ihrer Krankenschwester auf dem Rettungsboot davon, wurde Stunden später von der
Carpathia
aufgefischt und überlebte. John Jacob Astor aber blieb zurück.
Es kommt jedoch noch dicker. Denn offenbar hatten vor manchen Männern an Bord der sinkenden
Titanic
nicht nur Frauen, Kinder und Besatzungsmitglieder den Vortritt, sondern auch Hunde. So wurde ein Passagier an Bord des Rettungsboots Nr. 4 (25 freie Plätze) bisher noch gar nicht erwähnt: der King-Charles-Spaniel von Frau Astor. Während sein Herrchen und dessen Airdale an Bord des untergehenden Schiffes bleiben »durften«, schaffte es der King Charles mit Madeleine Astor offenbar an Bord des Rettungsschiffes
Carpathia
. Das berichtete jedenfalls
The Times Dispatch
vom 20. April 1912. Während ihr das Schicksal von Mitreisenden herzlich egal gewesen sei, habe der Hund ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Demnach sorgte sich Frau Astor um niemanden so sehr wie um ihren Hund, der im Speisesaal der
Carpathia
sogar neben ihr auf einem Stuhl sitzen durfte: »Frau Astor hatte eine besondere Verpflegung für ihren Hund vorbereitet, die ihm serviert wurde, als sei er ein leidender Passagier. Viele beschwerten sich darüber, dass der Speisesaal kein Platz für Tiere sei.«
Tja – so sind sie eben, die reichen Snobs. Aber was gegenüber den Mitpassagieren kaltherzig und gleichgültig erscheint, könnte schlicht Ausdruck des Schocks über das Ereignis und den Verlust ihres Gatten gewesen sein. Immerhin war die Frau mit ihren 18 Jahren noch ein halbes Kind und außerdem in anderen Umständen. In John Jacob Astor hatte sie gerade erst nicht nur einen Mann, sondern auch eine Art Vaterfigur gefunden. Nur ein halbes Jahr zuvor, am 9. September 1911, hatten die beiden geheiratet. Frau Astors Verhalten und die Vermenschlichung des Hundes sind derartig auffällig, dass man fast den Eindruck gewinnt, sie könnte in dem Hund ihren verstorbenen Mann gesehen und sich so vorgemacht haben, dass er gerettet worden sei.
Mindestens vier Hunde überlebten den Untergang der
Titanic
in den Rettungsbooten. Neben Frau Astors King Charles überlebte auch Elizabeth Rothschilds Pomeranian (Rettungsboot Nr. 6, 37 freie Plätze), Margaret Hays Pomeranian (Rettungsboot Nr. 7, 44 freie Plätze) und Henry Sleeper Harpers Pekinese (Rettungsboot Nr. 3, 15 freie Plätze). In Wirklichkeit waren es aber wohl noch viel mehr: »Es gab 30
Weitere Kostenlose Bücher