Das Titanic-Attentat
»Sind dann sofort zu der erwähnten Stelle gefahren. Dort angekommen, zu Tagesanbruch, sahen wir ein Eisfeld, 25 Meilen lang, offensichtlich massiv, eine Menge an Wrackteilen und einige Rettungsboote voll mit Menschen.« [106]
»Das Wasser«, beschrieb Beesley das Panorama von Bord der
Carpathia
aus weiter, »erstreckt sich in seiner ganzen Schönheit bis zur Kimm, und dann auf dieser See ein Eisfeld von arktischen Ausmaßen plaziert und unzählige Eisberge überall – weiße, rosa getauchte und tödlich kalte – und nahe bei ihnen plötzlich heraufkommende Boote aus der Mitte des Ozeans, um jene herum rudernd und ihnen ausweichend, mit Passagieren, gerettet von dem wunderbarsten Schiff, das die Welt je sah.« [107]
In der Nacht vom 14. auf den 15. April 1912 fährt die
Titanic
direkt auf die massive Eisbarriere zu und sinkt. Die nördlich gelegene
Californian
hat gestoppt und treibt über Nacht nach Süden auf die
Titanic
zu. Von vorne (Westen) nähert sich die
Mount Temple
, die sehr viel näher am Ort des Geschehens war, als bisher angenommen. Vermutlich war sie das Schiff, das stundenlang regungslos und abgedunkelt neben der
Titanic
lag und den Untergang beobachtete, ohne den Passagieren Hilfe zu leisten. [23]
Quod erat demonstrandum: Genau das hatten die Eiswarnungen vorhergesagt. Und genau so sah es also an der Untergangsstelle der
Titanic
aus: Eis und Eisberge, so weit das Auge reichte.
Denn selbstverständlich hatten sich die Rettungsboote in zwei bis drei Stunden nicht weit von der Untergangsstelle entfernt. Es wäre sogar äußerst dumm gewesen. Denn schließlich hatte die
Titanic
ihre letzte Position ja durchgegeben.
Nachdem die
Carpathia
die Überlebenden (also auch Beesley) aufgenommen hatte, fuhr das Schiff am 15. April 1912 »den ganzen Nachmittag am Rand des Eisfeldes, das sich so weit nach Norden erstreckte, wie ein Auge ohne Hilfsmittel sehen konnte«. Das Eisfeld war so massiv und riesig, dass Beesley überlegte, ob man die Passagiere von der sinkenden
Titanic
aus nicht auf das Eisfeld hätte bringen und weitere Überlebende hätte holen können, »wenn wir gewusst hätten, dass es dort gewesen wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass es so durchführbar gewesen wäre.« [108]
Nun – Kapitän und Schiffsführung haben das bestimmt gewusst. Da die
Titanic
ja angeblich so verzweifelt auf rettende Schiffe wartete, hätten Kapitän und Besatzung durchaus auf die Idee kommen können, die Insassen auf das umgebende Eis zu retten – so, wie es bei anderen Eisunfällen zuvor auch schon geschehen war.
Als beispielsweise am 27. April 1845 der Schoner
Ellen
150 Meilen westlich von Cape Race einen Eisberg rammte und sank, brachte sich die Besatzung auf dem Eis in Sicherheit. Als am 3. Mai 1893 die
SS Castlegate
400 Kilometer östlich von Cape Race einen Eisberg rammte, überlebte die Besatzung auf einer Eisscholle. Als am 27. Juni 1875 der Schoner
Caledonia
auf einen Eisberg auffuhr und innerhalb von 30 Minuten sank, wurden 82 Menschen auf einen Eisberg gerettet, wo sie die Nacht verbrachten.
Es wäre möglicherweise auch auf der
Titanic
eine Option gewesen, die voll besetzten Rettungsboote einfach in Richtung des nächsten Eisberges oder des Treibeises zu schicken, um dort Überlebende abzusetzen und neue zu holen – das geschah aber nicht. Selbst der angeblich gerammte Eisberg wäre dafür in Frage gekommen – immer noch besser, als im eiskalten Wasser zu erfrieren und zu ertrinken.
Tatsächlich ist dies eines der zentralen und vollkommen unbeachteten Rätsel des Untergangs: Während die
Titanic
auf Rettung wartete, war die Rettung längst vor Ort – in Gestalt von Eis. Aber bekanntlich kamen Kapitän und Besatzung ja nicht einmal auf die Idee, die Rettungsboote voll zu machen. Die wirksame Rettung der Passagiere schien überhaupt nicht auf dem Plan zu stehen. Doch dazu gleich mehr.
»Es ist sicherlich ein ungewöhnlicher Anblick«, berichtete Beesley weiter über die Heimfahrt mit der
Carpathia
, »an Deck zu stehen und die See mit festem Eis bedeckt zu sehen, weiß und blendend in der Sonne und an einigen Stellen mit Eisbergen durchsetzt.« Sie seien in etwa 200 bis 300 Metern vorbeigefahren »und dampften parallel zu den Schollen, bis sie nachts irgendwann endeten …« Später sei bekannt geworden, »dass das Eisfeld fast siebzig Meilen lang und zwölf Meilen breit gewesen ist …« [109] Das sind etwa 113 mal 20 Kilometer und damit ziemlich genau die von
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