Das Todeskreuz
nicht zu. Irgendwann,
nach Minuten oder Stunden, er war unfähig, die Zeit zu bestimmen,
war es zu Ende. Er bekam kaum noch Luft, und doch
noch genug, um atmen zu können.
Sie beugte sich über ihn und sagte mit wieder dieser sanften
Stimme: »Das war für Anna, für Nathalie und für Martina und für
deine Ehefrau Leonie, alles Frauen, denen du die Seele geraubt
hast. Besonders jedoch für Hanna, die sich aus lauter Scham und
Verzweiflung das Leben genommen hat. Es wird jetzt aber nicht
mehr lange dauern, bis auch du von deinen Qualen erlöst sein
wirst. Ich werde dir jetzt die Anklageschrift vorlesen. Du hättest
für das Recht eintreten sollen, aber du hast dich für das Unrecht
entschieden. Du hättest den Verzweifelten helfen sollen, aber du
warst nur gierig und hast dich kaufen lassen. Wie der Justitia
waren auch dir die Augen verbunden, aber diese Binde hast du
dir selbst angelegt. Du hast die Waage in deiner Hand gehalten,
doch du hast nichts abgewogen, sondern nur deine Taschen gefüllt.
Nichts von dem, was du in deinem Eid geschworen hast,
hast du auch gehalten. Du hast kleine Diebe mit grausamer Härte
bestraft, aber du hast Mörder und Vergewaltiger, die viel Geld
hatten, einfach laufen lassen. Das ist die Anklage, und du wirst
hiermit für schuldig befunden, den Tod durch Erdrosseln zu erleiden.
«
Er hatte keine Kraft mehr, etwas zu sagen, geschweige denn
zu schreien, sein Körper war ein einziger großer Schmerz, sein
Mund und seine Kehle wie ausgetrocknet. Ein Hanfseil wurde
um seinen Hals gelegt und langsam zugezogen, die Augen traten
weit hervor, bis der Kopf leblos zur Seite fiel.
Dienstag, 20.20 Uhr
Elvira Klein hatte den Termin am Nachmittag abgesagt
und ihr Büro um fünfzehn Uhr verlassen. Sie war nach Frankfurt
gefahren und in mehrere Boutiquen in der Goethestraße gegangen,
einfach nur, um sich abzulenken. Was Brandt ihr mitgeteilt
hatte, hatte sie mehr mitgenommen als alles, was sie in den letzten
Jahren als Staatsanwältin gesehen und gehört hatte. Sie hätte
sich am liebsten irgendwo verkrochen und betäubt, aber sie war
sich im Klaren, dass sie damit nur vor der Ungewissheit und vor
sich selbst flüchten würde. Doch je länger sie über Brandts Ausführungen
nachdachte, desto verwirrter, aber auch wütender
wurde sie. Ich darf jetzt nicht mehr darüber nachdenken, heute
Abend wird sich alles aufklären. Hoffentlich ist das alles nur
heiße Luft! Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich!
Sie kaufte sich eine ganze Tasche voll Dessous (wobei sie
sich fragte, für wen sie das tat, hatte sie doch niemanden, dem
sie sie zeigen konnte), zwei sündhaft teure Kleider, drei Blusen
und drei Röcke, zwei Jeans (eine hell- und eine dunkelblaue),
zwei Hosenanzüge, vier Paar Schuhe und eine neue Sonnenbrille
und verstaute alles im Kofferraum ihres BMW. Sie schaute
auf die Uhr, zwanzig vor sechs, ging noch zum Steinweg und
dort in einen großen Buchladen und verließ das Geschäft mit
zehn Büchern, davon acht Liebesromane, ein Bildband über
Neuseeland und ein Kriminalroman von einem deutschen Autor,
der in Norddeutschland spielte. Am Ende des Kaufrauschs hatte
sie über viertausend Euro ausgegeben, und dennoch fühlte sie
sich keinen Deut besser als zuvor. Sie betrat um kurz vor sieben
ihre luxuriöse Wohnung im einundzwanzigsten Stock, die ihr
Vater ihr gekauft hatte, stellte die Taschen ab und beschloss, vor
dem Besuch bei ihren Eltern noch zu duschen. Es war warm in
den Geschäften gewesen, die Kleidung klebte an ihr, sie fühlte
sich unwohl. Und vielleicht wurde auch ihr Kopf klarer nach
einer ausgiebigen Dusche.
Als sie im Bad fertig war, zog sie sich ein Set der neu gekauften
Dessous an, betrachtete sich im Spiegel und nickte zufrieden.
Ich habe eine gute Figur, dachte sie, aber leider gibt es
niemanden, den das interessiert. Sie zuckte mit den Mundwinkeln
und zog die hellblaue Jeans, die wie für sie maßgeschneidert
war, eine beige Bluse, hellbraune Sneakers und eine dünne,
ebenfalls hellbraune Lederjacke über, gab ein paar Spritzer Jil
Sander Sun auf ihre Handgelenke und ihren Hals, bürstete noch
einmal ihr volles blondes Haar, das sie anschließend hinten zusammenband,
wodurch sie etwas strenger erschien, und verließ
um kurz vor acht die Wohnung. Bis zum Haus ihrer Eltern fuhr
sie maximal eine halbe Stunde, um diese Zeit eher weniger. Im
Auto hörte sie FFH, die Nachrichten, der Verkehrsservice und
das
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