Das Todeskreuz
Sittler konnte dir gar keinen
Wunsch abschlagen, sie war ja eine sehr attraktive Frau und dazu
noch so gebildet, ganz anders als Mutter. Zwei vom gleichen
Schlag. Aber das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Irgendwie
hab ich schon immer geahnt, dass du kein Kostverächter bist -
deine jungen Hausmädchen, die immer wie aus dem Ei gepellt
aussehen und dir bestimmt jeden Wunsch von den Augen ablesen.
Wie alt war die Sittler doch gleich noch, als diese Morde
geschahen? Vierunddreißig? Jetzt verstehe ich auch, warum Mutter
und du euch nichts mehr zu sagen habt, denn sie weiß von
deinen Affären, hält aber den Mund, denn sie möchte wohl zum
einen den Schein wahren und zum andern das angenehme Leben
in materieller Sicherheit nicht aufgeben. Hab ich recht?«
»Du schlägst unter die Gürtellinie, das bin ich von dir überhaupt
nicht gewohnt.«
»Ich habe dazugelernt, Vater! Ich geh jetzt besser, ich bin nur
noch müde und maßlos enttäuscht.«
»Bitte, warte. Du bist doch meine Tochter, und ich war doch
immer für dich da. Du kannst doch nicht so einfach gehen.«
Sie stand an der Tür und drehte sich um und sagte: »Doch,
ich kann, denn ich halte es hier drin nicht eine Sekunde länger
aus. Es gibt für dich nur eine einzige Chance, dass ich wenigstens
wieder einen Funken Achtung vor dir habe, und das wäre,
wenn du deinen Fehler von damals wiedergutmachen würdest.
Was das heißt, kannst du dir denken. Überleg es dir, meine Nummer
hast du ja. Ansonsten kann ich dir nur empfehlen, dich
warm anzuziehen.«
»Elvira!«, rief er ihr hinterher, doch sie hörte nicht mehr hin,
sie wollte nicht mehr hören, was er zu sagen hatte.
Sie lief mit schnellen Schritten hinaus. In der großen Eingangshalle
begegnete sie Tanja, ohne sie auch nur eines Blickes
zu würdigen. Sie setzte sich in ihren Wagen, startete den Motor,
stellte die Musik ganz laut und raste mit Höchstgeschwindigkeit
nach Hause. Es war ihr egal, ob sie geblitzt oder angehalten wurde.
Um Viertel nach zehn kam sie an, ging auf den Balkon hinaus
und sah über das Lichtermeer der Großstadt. Der Himmel hatte
aufgeklart, nur ein paar vereinzelte Wolken zogen noch vorbei.
Die Luft war klar, der Autolärm der um diese Zeit noch vielbefahrenen
Straßen drang nur ganz leise zu ihr hoch. Nach zehn
Minuten begab sie sich zurück ins Wohnzimmer, ließ sich auf die
Couch fallen, nahm ein Kissen und drückte es gegen ihren Bauch.
Anfangs waren es nur ein paar Tränen, dann jedoch, ohne dass
sie es bestimmen konnte, entlud sich ein großer Schwall. Alles
war zerbrochen, alle Erinnerungen schienen nur noch Fassade zu
sein, und auch die lag in Trümmern. Nach weiteren zehn Minuten
war der Tränenstrom versiegt, Elvira Klein griff zum Telefon
und wählte die Nummer von Andrea Sievers. Nachdem sie es
endlos hatte läuten lassen, legte sie den Hörer auf den Schoß und
starrte eine ganze Weile an die Wand mit dem Chagall-Replikat,
bis sie erneut den Hörer in die Hand nahm.
Dienstag, 22.45 Uhr
Peter Brandt saß vor dem Fernseher und verfolgte den
Wetterbericht, als sein Telefon klingelte. Auf dem Display war
keine Nummer zu erkennen. Er seufzte auf und meldete sich mit
einem kurz angebundenen »Ja?«
»Klein hier. Hab ich Sie geweckt?«
»Nein«, antwortete er schnell, denn er hatte mit allem gerechnet,
aber nicht, dass Elvira Klein um diese Zeit noch anrufen
würde.
»Haben Sie Zeit?«, fragte sie beinahe schüchtern.
»Ja«, kam es spontan aus seinem Mund, obwohl er nach einem
langen und ereignisreichen Tag müde war und zu Bett gehen
wollte. »Was kann ich für Sie tun?«
Für einen Moment herrschte Schweigen am andern Ende, bis
sie mit stockender Stimme sagte: »Können Sie zu mir kommen?«
Es klang nicht wie die eindeutige Bitte einer einsamen Frau, die
sich nach Gesellschaft und vielleicht auch Zärtlichkeit sehnte,
sondern wie eine Bitte, weil sie etwas auf dem Herzen hatte.
»Haben Sie mit Ihrem Vater gesprochen?«
»Kommen Sie, bitte, ich muss mit jemandem reden.«
»Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen. Einundzwanzigster
Stock, richtig?«
»Ja. Und danke.«
Brandt schaute in Michelles Zimmer, sie schlief, und anschließend
in das von Sarah, die wie so oft am späten Abend von ihrem
Handy aus telefonierte. Mit wem, das wusste er nicht, aber er
kannte alle Nummern, da er jeden Monat einen Einzelverbindungsnachweis
erhielt. Sarah blickte kurz auf. Er sagte: »Ich
muss noch mal weg, und du
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