Das Todeskreuz
denn?«, fragte Platzeck stirnrunzelnd. »Hab
ich noch gar nicht bemerkt.«
»Sie hatte Angst. Wovor und vor wem, das werden wir noch
rauskriegen. Ihre Tochter konnte es mir auch nicht sagen. Ich will
dich jetzt aber nicht länger aufhalten, außerdem muss ich noch
ins Präsidium.«
»Viel Erfolg bei der Suche«, sagte Platzeck und wandte sich
wieder seiner Arbeit zu, die vielleicht die ganze Nacht, vielleicht
sogar noch den ganzen Montag andauern würde.
Durant ging nach draußen, wo Leslie an den Torpfosten
gelehnt stand und die Kommissarin aus traurigen Augen anblickte.
»Kann ich Sie noch was fragen?«
Durant nickte.
»Was für Menschen sind das, die einfach so einen andern umbringen?
Sie haben doch Erfahrung mit so was?«
»Ich kann Ihnen darauf leider keine Antwort geben. Manche sind verrückt, manche handeln im Affekt, manche aus Habgier.
Ich bin seit gut zwanzig Jahren bei der Polizei und weiß bis heute
nicht, was das für Menschen sind. Aber das ist unwichtig, viel
wichtiger ist, den Mörder Ihrer Mutter zu fassen und herauszukriegen,
was sein Motiv war.«
»Ich würde ihm gern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen
und in seine Augen sehen. Wäre das möglich?«
»Mal schauen. Machen Sie's gut und melden Sie sich, falls
Ihnen doch noch etwas einfällt, das für unsere Ermittlungen
wichtig sein könnte. Ach, eine Frage hätte ich noch. Was studieren
Sie?«
Leslie ließ sich mit der Antwort Zeit und sah Durant dabei in
die Augen. Schließlich sagte sie leise, als würde sie sich dafür
schämen: »Jura. Irgendetwas bekommt man doch immer vererbt.
«
»Es ist ja keine Schande, sich auf die Seite des Gesetzes zu
schlagen.«
»Sicher nicht. Aber wenn ich's rückgängig machen könnte,
würde ich lieber Architektur studieren.«
»Tun Sie's doch, Sie sind noch jung.«
»Nein, ich zieh das jetzt durch. Mal sehen, was die Zukunft
bringt.«
Leslie entfernte sich. Durant sah ihr nach und stieg in ihren
Wagen. Sie fuhr zum Präsidium, das sie nach nicht mal einer
Viertelstunde erreichte. Nur hinter wenigen Fenstern brannte
Licht, Kollegen von der Bereitschaft.
Sie nahm die Treppe in den vierten Stock, denn sie brauchte
jetzt diese Bewegung, auch wenn sie das ganze Wochenende über
nur wenig gesessen oder geschlafen hatte. Aber sie war wie aufgedreht.
Am liebsten wäre sie eine Runde gejoggt, etwas, das sie
all die Jahre über verpönt hatte, doch im Februar hatte sie sich
kurzentschlossen entsprechende Kleidung und Schuhe zugelegt
und es tatsächlich bis heute geschafft, fast jeden Tag etwa eine
Stunde zu laufen. Und dazu noch das Fitness-Studio. Sie fühlte
sich körperlich so fit und gut wie seit Jahren nicht mehr.
Die Büros des K 11 waren verwaist. Sie drückte den Lichtschalter
und begab sich hinter ihren Schreibtisch, auf dem bereits
die Fotos vom Tatort lagen. Sie setzte sich und breitete sie vor
sich aus.
Eine Frau, die seit zehn Jahren scheinbar in völliger Isolation
von der Außenwelt gelebt und nur über das Telefon und den
Computer Kontakt zu andern Menschen hatte. Und doch gab es
unzählige Fragen, die es zu klären galt. Eine der wichtigsten war,
ob sie nicht doch ein Doppelleben führte, von dem niemand etwas
wusste oder wissen durfte, nicht einmal ihre Tochter. Und je
länger Durant die Fotos betrachtete, desto sicherer wurde sie,
dass Corinna Sittler diese Isolation für einen oder sogar mehrere
Personen zumindest hin und wieder aufgegeben hatte. Aber für
wen und warum?
Sie lehnte sich zurück und griff nach ihrer Tasche, in der sich
die Zigaretten befanden. Ich brauch jetzt eine, dachte sie, ich
habe den ganzen Tag nicht geraucht. Und ich werde bestimmt
auch nicht wieder richtig damit anfangen. Ganz bestimmt nicht.
Sie nahm einen tiefen Zug, schloss für einen Moment die Augen
und dachte nach. Confiteor - Mea Culpa; Ich bekenne - Meine
Schuld. Was zum Teufel soll das bedeuten? Was bekennst du oder
sollst du bekennen? Was hast du getan, dass man dich umbringt?
Deine Angst war also nicht unberechtigt. Hat sich irgendwer dein
Vertrauen erschlichen und zugeschlagen, als du am wenigsten
damit gerechnet hast? Im Augenblick scheint es mir die einzige
sinnvolle Antwort zu sein. Und warum warst du so aufreizend
gekleidet, wenn man die Strümpfe überhaupt als Bekleidung bezeichnen
kann? Und mit wem hattest du am Freitagabend eine
Verabredung? Ein Mann? Oder gar eine Frau? Wenn du Männer
verabscheut hast, dich aber nach
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