Das Todeswrack
egal, solange man ein Seil hinunterlassen und die Eimer füllen konnte.«
Gamay trat an die Beckenkante und spähte zu der Öffnung.
Das Loch war fast überwuchert, und die Vegetation hatte sich einen Weg in die Kammer gebahnt, was zugleich den Lichteinfall einschränkte.
»Das sieht aus wie eine Ranke, die nach unten hängt.« Chi kniff die Augen zusammen. »Vielleicht sogar mehr als eine. Ich sehe auch nicht mehr so gut wie früher.«
Jetzt musste Gamay die Augen zusammenkneifen. Der Professor brauchte noch lange keinen weißen Stock, beschloss sie. Selbst mit ihrem tadellosen Sehvermögen konnte sie die zweite Ranke kaum erkennen. Sie senkte den Blick. Der größte Teil der Wand lag im Schatten. Es bestand kein Anlass zu der Vermutung, dass sich dieser Teil von der Wand unterscheiden würde, die Gamay im Becken untersucht hatte.
»Man kann es bei diesem Licht nur schwer sagen, aber von hieraus wirkt diese Wand einfacher als manche der Felswände, die ich in West Virginia erklettert habe. Zu schade, dass wir weder Steigeisen noch Pickel dabeihaben.« Sie lachte. »Zur Hölle, mir würde ja schon ein Schweizer Offiziersmesser reichen.«
Chi starrte eine Weile nachdenklich ins Leere.
»Vielleicht habe ich etwas Besseres als ein Schweizer Offiziersmesser.«
Er griff unter sein Hemd, streifte einen Lederriemen über den Kopf und reichte ihn Gamay. Im trüben Licht sah der Anhänger, der an dem Riemen baumelte, in etwa wie der Kopf eines Raubvogels aus.
Gamay wog das Objekt in der Hand. Die grünen Augen funkelten sogar im schwachen Licht der Höhle, und der weiße Schnabel schien zu glühen. »Wunderschön. Was ist das?«
»Ein Amulett. Kukulcan, der Sturmgott, so hieß er bei den Maya. Die Azteken nannten ihn Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange. Der Kopf ist aus Kupfer, die Augen aus Jade, der Schnabel aus Quarz. Ich trage ihn als Glücksbringer und um Zigarren damit einzuschneiden.«
Das runde Unterteil passte genau in ihre Hand. Sie betastete den kurzen stumpfen Schnabel.
»Sagen Sie, Dr. Chi, wie hart ist Kalkstein?«
»Er besteht aus Kalziumkarbonat und antiken Muschelschalen.
Hart, aber krümelig, genau wie man vermuten würde.«
»Ich frage mich, ob ich Griff- und Trittstellen in die Wand hacken könnte. Bis ich in Reichweite der Ranken bin.« Sie war sich nicht sicher, was sie nach der Flucht aus dieser Höhle tun sollte, aber ihr würde schon etwas einfallen.
»Das ist durchaus möglich. Quarz ist fast so hart wie Diamant.«
»In dem Fall würde ich mir diese kleine Vogelschlange gern eine Weile ausleihen.«
»Aber bitte doch«, sagte er. »Vielleicht benötigen wir die Hilfe der Götter, um aus diesem Verlies zu entkommen.«
Gamay glitt wieder ins Wasser und durchschwamm das Becken. Dann folgte sie dem Verlauf der Wand bis zu einem kleinen Vorsprung im Kalkstein. Sie hielt sich mit einer Hand daran fest, streckte den anderen Arm aus und fand ein Loch, das groß genug für ihre Finger war. Sie benutzte das Amulett wie ein primitives Beil und erweiterte das Loch, bis ihre Hand festen Halt fand. Dann zog sie sich nach oben, so dass ihr Knie auf dem Vorsprung ruhte, und hackte ein weiteres Loch in etwas größerer Höhe.
Sobald sie in der Lage war, sich gänzlich aufzurichten, ging die Arbeit schneller voran. Zentimeter für Zentimeter stieg sie die Wand empor. Sie klammerte sich an den steilen Fels und presste das Gesicht gegen die harte Oberfläche. Auf diese Weise lernte sie die Beschaffenheit des Kalksteins ziemlich genau kennen. Wie sie vermutet hatte, war die Wand rissig und ausgehöhlt. Gamay nutzte entweder natürliche Griffstellen oder erweiterte einfach bestehende Löcher. Ihr Haar war von feinem weißen Staub überzogen. Hin und wieder musste sie innehalten, um sich die Nase an der Schulter abzuwischen. Ein kräftiges Niesen würde sie abstürzen lassen.
Warum sah das bei Spiderman immer so einfach aus? Sie hätte ein Königreich für zwei von Spideys Armbändern gegeben, mit denen er Netze verschließen konnte.
Allein das Festhalten war schon anstrengend genug, aber was sie am meisten erschöpfte, war die Arbeit mit ausgestrecktem Arm über dem Kopf. Ihre Schulter tat weh, und oftmals musste sie ihren tauben Arm baumeln lassen, bis wieder Blut durch ihn strömte. Sie fragte sich, ob sie den Krampf im Nacken jemals wieder loswerden würde.
Auf halbem Weg schaute sie nach unten. Chis weißes Hemd war im Dämmerlicht kaum zu erkennen. Er hatte ihr Fortkommen verfolgt.
»Ist
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