Das Todeswrack
Wasserspiegel«, erklärte Chi. »Ob er danach wieder nach oben oder weiter nach unten führt, weiß ich nicht.«
»Aber es ist nicht unmöglich, dass dieser Tunnel eventuell zur Oberfläche führt.«
»Si. Der Boden Yukatans besteht einfach nur aus einer Kalksteinplatte voller natürlicher Höhlen und Gänge, die sich das Wasser im Verlauf der Äonen gegraben hat.«
Gamay erzitterte, weniger aufgrund der feuchten Kälte, als angesichts des klaustrophobischen Gedankens, in die wassergefüllte Erde abzutauchen. Sie zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken, aber es gelang ihr nicht ganz.
»Professor Chi, ich weiß, es klingt verrückt. Ich will heraus finden, ob dieser Tunnel irgendwohin führt. Ich kann ungefähr zwei Minuten lang die Luft anhalten, was für eine beträchtliche Schwimmstrecke ausreicht.«
»Das ist sehr gefährlich.«
»Auch nicht gefährlicher, als darauf zu warten, dass diese Kerle da oben beschließen, uns für immer an diesem Ort zu begraben. Natürlich nachdem mein dental herausgeforderter Freund noch ein wenig Spaß gehabt hat.«
Chi widersprach nicht. Er wusste, dass sie Recht hatte.
»Tja«, sagte sie, »Zeit für ein kurzes Bad.«
Sie ließ sich in das Becken gleiten und begann mit einer Reihe geräuschvoller Atemübungen, um ihre Lunge mit Sauerstoff zu füllen. Als sie so viel Luft eingeatmet hatte, dass ihr beinahe schwindlig war, tauchte sie kurz ab und erforschte den Tunneleingang.
Dann kam sie wieder an die Oberfläche und teilte Chi ihren Fund mit. »Er verläuft nach unten, aber ich weiß nicht, wieweit.«
Er nickte. »Denken Sie daran, dass Sie genug Luft für den Rückweg übrig behalten.«
Chi beugte sich vor und gab ihr sein Gasfeuerzeug. »Vielleicht werden Sie es brauchen.«
Gamay war bereits wieder mit ihren Atemübungen beschäftigt, und so steckte sie das Feuerzeug in ihre Shorts, reckte den Daumen in die Höhe und tauchte hinab in die Finsternis. Im Stillen zählte sie die Sekunden mit –
einundzwanzig, zweiundzwanzig
–, wie ein Kind, das die Entfernung eines Gewitters herausfinden möchte, und hielt sich unmittelbar unter der Decke. Sie hatte beschlossen, bis an die äußerste Grenze zu gehen. Wenn sie fast zwei Minuten geradeaus schwamm, konnte sie ungefähr dreißig Meter zurücklegen, bevor sie mit brennender Lunge so schnell wie möglich umkehren musste.
Wie sich herausstellte, war das gar nicht nötig. Sie hatte beim Zählen soeben die achtzig erreicht, als die Decke plötzlich steil nach oben anstieg und Gamays ausgestreckte Hand die Wasseroberfläche durchstieß, unmittelbar gefolgt von ihrem Kopf. Sie atmete aus und dann vorsichtig wieder ein. Die Luft war muffig, aber gut.
Gamay konnte ihr Glück kaum fassen. Wurde ja auch Zeit, dass sich
endlich
etwas tat.
Der Tunnel fiel steil ab und stieg dann ebenso steil wieder an, wie der wassergefüllte Siphon unter einem Waschbecken. Dank der ständigen Renovierungen an ihrem Haus in Georgetown kannte sie sich mit Installateurarbeiten ziemlich gut aus. Bei dem Gedanken, dass sie hier in einem überdimensionalen Ausguss schwamm, musste sie lachen. Halb deswegen und halb aus Erleichterung. Ihre Stimme hallte in der Dunkelheit wider und ließ sie alsbald daran denken, dass sie dieser verfahrenen Situation noch nicht entronnen war. Noch längst nicht.
Sie kramte Chis Feuerzeug aus der Tasche hervor und hielt es hoch, beinahe wie die Freiheitsstatue. Nach einigen Versuchen gab der Feuerstein einen Funken ab, und die Flamme erwachte zischend zum Leben. Gamay trat Wasser, drehte sich und sah, dass sie sich am Grund eines steilen, runden Lochs befand. Sie schwamm am Rand entlang und kam sich wie das sprichwörtliche Kind vor, das in den Brunnen gefallen war.
Wie, um alles in der Welt, sollte sie diese Wände erklimmen?
Sie war nicht gerade begeistert von dem Gedanken, ihre Vorstellung aus dem
cenote
zu wiederholen und erneut wie Ikarus abzustürzen.
Auf Höhe des Wasserspiegels war eine Art Sims zu sehen.
Gamay schwamm hinüber und hob das Feuerzeug. Ein kleines Stück über dem ersten befand sich ein zweiter Vorsprung. Ihr Herz raste vor Aufregung. Trittsteine! Vielleicht gab es doch noch eine n Ausweg aus diesem Schacht. Sie verlor keine weitere Zeit, sondern zog sich aus dem Wasser und stieg die Stufen hinauf, die spiralförmig im Innern der steinernen Röhre verliefen.
Bald darauf hatte sie den Rand des Brunnens erreicht. Mit Hilfe des Feuerzeugs erkundete sie abermals ihre Umgebung.
Sie befand
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