Das Todeswrack
Seite begeben, die weiter vom Wasser entfernt lag. Sie warteten auf Verhaltensmaßregeln. Im Schein der Notbeleuchtung klammerten sie sich an den Liegestühlen fest, die mittels Bolzen auf dem Deck befestigt waren, oder drängten sich besorgt zwischen die Gepäckstapel, die man zuvor als Vorbereitung auf die Ankunft dort aufgeschichtet hatte. Die Besatzungsmitglieder kümmerten sich so gut wie möglich um die Versorgung der Arm- und Beinbrüche. Prellungen und Quetschungen würden warten müssen.
Manche der Leute trugen Abendgarderobe, andere ihre Nachtwäsche. Sie waren erstaunlich ruhig, außer wenn das Schiff von neuem erzitterte. Dann hallten Angstschreie und Flüche durch die feuchte Luft. Angelo wusste, dass diese Gemütsruhe sehr schnell in Hysterie umschlagen würde, falls bekannt wurde, dass einige Besatzungsmitglieder sich in den einzigen Rettungsbooten absetzten und die Passagiere auf einem sinkenden Schiff zurückließen.
Das Promenadendeck war so entworfen, dass die Passagiere durch die Schiebefenster in die Rettungsboote klettern konnten, die vom Bootsdeck herabhingen. Die Schiffsoffiziere und der Rest der Mannschaft bemühten sich vergeblich, die Rettungsboote loszuhaken. Die Davits waren nicht dafür konstruiert worden, in einem steilen Winkel zu funktionieren, und so war es unmöglich, die Boote frei zu bekommen.
Angelos Mut sank. Das war der Grund, warum die Passagiere nicht aufgefordert worden waren, das Schiff zu verlassen. Der Kapitän hatte Angst vor einer Panik!
Da die eine Hälfte der Boote von der Besatzung benutzt wurde und die andere Hälfte nutzlos war, blieb keine Rettungsmöglichkeit für die Passagiere übrig. Wie es schien, standen nicht einmal genug Schwimmwesten zur Verfügung.
Falls das Schiff sank, gab es für die Passagiere kein Entrinnen.
Einen flüchtigen Moment lang erwog Angelo, zurück auf die Steuerbordseite zuschlittern und mit den anderen Besatzungsmitgliedern abzuhauen. Er schob den Gedanken beiseite, nahm stattdessen einem anderen Matrosen einen Stapel Schwimmwesten ab und begann, sie zu verteilen. Verdammter sizilianischer Ehrenkodex. Eines Tages würde er ihn noch mal das Leben kosten.
»Angelo!«
Ein blutiges Gespenst bahnte sich einen Weg durch das Gewühl und rief seinen Namen.
»Angelo,
ich
bin’s, Jake Carey«
Der große Amerikaner mit der hübschen Frau. Mrs. Carey war alt genug, um seine Mutter zu sein, aber
mamma mia,
die großen schönen Augen und die Art und Weise, wie ihre einst jugendlichen Kurven durch das eine oder andere zusätzliche Pfund an reifer Sinnlichkeit gewonnen hatten! Angelo hatte sich sofort in sie verliebt, das unschuldige Begehren eines jungen Mannes. Die Careys hatten ihm ein großzügiges Trinkgeld gegeben und, was noch viel wichtiger war, sie hatten ihn mit Respekt behandelt. Andere Leute, sogar manche seiner italienischen Kameraden, schauten auf seine dunkle sizilianische Haut herab.
Dieser Jake Carey verkörperte den Inbegriff amerikanische n Wohlstands. Er war Mitte fünfzig, mit kurzem grauen Haar und braun gebranntem Gesicht, und er war noch immer durchtrainiert, so dass seine breiten Schultern sein Sportsakko bequem ausfüllten. Doch der gut gekleidete Passagier, den Angelo früher an jenem Abend gesehen hatte, war verschwunden. Der Mann, der mit wildem Blick auf ihn zulief, trug einen zerrissenen, von Staub und Schmutz verkrusteten Pyjama, auf dessen Vorderseite ein großer roter Schmierfleck prangte. Er erreichte Angelo und packte ihn so fest am Arm, dass es wehtat.
»Gott sei Dank, jemand, den ich kenne«, sagte er erschöpft.
Angelo ließ den Blick über die Menge schweifen. »Wo ist Signora Carey?«
»In unserer Kabine gefangen. Ich brauche Ihre Hilfe.« Seine Augen funkelten flehentlich.
»Ich komme«, erwiderte Angelo, ohne auch nur zu zögern.
Er veranlasste einen Steward, ihm die Schwimmwesten abzunehmen. Dann folgte er Carey zum nächsten Treppenaufgang. Carey senkte den Kopf und drängte sich durch den Menschenstrom, der sich aufs Deck ergoss. Angelo ergriff einen Zipfel von Careys besudelter Pyjamajacke, damit er ihn nicht verlor. Sie stürmten die Stufen zum Oberdeck hinunter, wo sich die meisten Erste-Klasse-Kabinen befanden.
Inzwischen waren auf den Gängen nur noch wenige ölbedeckte Nachzügler unterwegs.
Angelo war erschüttert, als er Mrs. Carey zu Gesicht bekam.
Sie sah aus, als würde sie in einem mittelalterlichen Foltergestell hängen. Ihre Augen waren geschlossen, und einen Moment lang
Weitere Kostenlose Bücher