Das Todeswrack
an der Ausgrabungsstätte beschäftigt, und das Camp war menschenleer. Nun ja, fast. Als sie sich den Zelten näherte, sah sie Gonzales am Rand des Lagerplatzes mit jemandem in einem Jeep reden. Dann fuhr der Wagen los, bevor sie Gelegenheit hatte, einen Blick auf das Gesicht des Fahrers zu erhaschen.
»Wer war das?«, fragte sie und schaute der Staubwolke hinterher, die der Wagen aufwirbelte.
Das automatische Lächeln erschien auf Gonzales’ Gesicht, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. »Er hatte sich verfahren.
Ich habe ihm den Weg beschrieben.«
Verfahren? Wovon redete er da? Es war hier nicht gerade so, als könnte man eine falsche Abfahrt vom Freeway nehmen. Das Camp lag meilenweit von allem und jedem entfernt. Die Gegend war einsam und unwirtlich, und es gab hier nichts, was für irgendjemanden von Interesse gewesen wäre, abgesehen von einer Horde verrückter Archäologen. Man musste sich hier draußen schon
absichtlich
verfahren. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, der Mann in dem Jeep wäre vielleicht von Fisel gerufen worden. Obwohl sie Gonzales’ Erklärung keinen Glauben schenkte, war sie daher dennoch erleichtert, sie zu hören.
Beim Frühstück hatte Fisel angekündigt, dass innerhalb weniger Tage einige marokkanische Taucher eintreffen würden.
Er »riet« Nina nachdrücklich, ihre Forschungen so weit wie möglich einzuschränken, um die Stätte nicht in Unordnung zu bringen. Nina hatte sich vorgebeugt und ihm tief in die Augen gesehen. Eine Kamera sei wohl schwerlich als Beeinträchtigung zu werten, hatte sie ruhig festgestellt, ihn dabei aber mit solch kalter Wut gemustert, dass Dr. Knox sich später beklagte, an seine m Schnurrbart hätten sich Eiszapfen gebildet. Maniriert erinnerte Fisel alle Anwesenden daran, dass er seinem Cousin, dem König, gegenüber verantwortlich sei. Dann flüchtete er sich wenig überzeugend in die Ausrede, er wolle ja nur die Unversehrtheit der Stätte erhalten.
Nina musste zugeben, dass auch sie selbst in gewisser Weise unredlich vorging. Sie entfernte Artefakte vom Fundort, was strikt verboten war, und erzählte weder Fisel noch Knox davon.
Auch wusste Fisel nichts darüber, dass sie ihre ersten Funde an den Datentresor der Universität von Pennsylvania geschickt hatte. Der Steinkopf war ebenfalls noch immer ihr Geheimnis.
Sie konnte ihr ungewöhnliches Verhalten jedoch problemlos vor sich selbst rechtfertigen. Drastische Zeiten erfordern drastische Maßnahmen. Kassim, Fisels Teejunge, winkte ihr freundlich zu.
Er war dumm wie ein Zaunpfosten, aber kein schlechter Kerl, wenn man ihn erst einmal kannte. Nina genoss die Stille.
Sie ging in ihr Zelt und tauschte den Badeanzug gegen trockene Kleidung.
Dann schaltete sie ihren Computer ein und sah, dass das E-Mail-Icon blinkte. Die Nachricht stammte von Dr. Elinor Sanford, der Dozentin in Pennsylvania, an die sie ihre Datei geschickt hatte.
Sandy Sanford und Nina kannten sich aus dem Grundstudium, bevor jede sich auf ihre Fachrichtung spezialisiert hatte. Sandy entschied sich für den mittelamerikanischen Forschungsraum und verkündete, diese Wahl läge eher in der jeweiligen Küche als in den Kulturen begründet. Burritos seien ihr lieber als Kuskus. Mochten ihre kulinarischen Vorlieben auch zweifelhaft sein, ihre Fachkenntnisse waren es nicht.
Erst kürzlich hatte man sie zur Fakultätskuratorin im Museum der Universität berufen. Nina scrollte den Text nach unten:
Glückwunsch, Nina! Du musst mir nicht erst den Kopf des Hannibal vorlegen, um mich davon zu überzeugen, dass du auf einen phönizischen Hafen gestoßen bist! Ich wünschte, ich könnte das tolle Zeug aus deiner Datei der verstaubten Clique hier in den engstirnigen Hallen der archäologischen Fakultät zeigen. Das würde vermutlich einen neuen Punischen Krieg auslösen. Aber ich werde mich an deine Bitte halten und nichts darüber verlauten lassen. Was hält El Grando Professoro davon?
Ich kann es gar nicht abwarten, dich wieder zu sehen. Halt die Ohren steif. Alles Liebe, Sandy.
Da war noch etwas.
PS: Hinsichtlich der Skizze von dem großen Steinkopf. Ein Scherz, oder? Ich versteh schon, du willst mich testen. Sieh mal in deinem Fax nach.
Nina rief ihr Faxprogramm auf. Das Foto eines Steingesichts erschien auf dem Bildschirm. Im ersten Moment glaubte sie, es handle sich um die Steinmetzarbeit aus der Lagune. Aber die Zeichnung, die sie geschickt hatte, befand sich zum Vergleich daneben. Sie starrte auf den Monitor. Die Plastiken
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