Das Todeswrack
verlieren und über die Klippe stürzen würde. Sie musste die Angelegenheit mit klarem Kopf durchdenken. Sie verscheuchte ein paar Fliegen und legte sich auf ihr Feldbett. Dann versuchte sie, sämtliche Gedanken aus ihrem Geist zu verdrängen und sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Als Nächstes wusste sie nur noch, dass sie irgendwann durch die Glocke zum Abendessen geweckt wurde.
Sie gähnte und rieb sich die Augen. Dann stolperte sie nach draußen. Ein herrlicher Sonnenuntergang, purpurrot und golden, bahnte sich an. Sie ging zum Speisezelt und setzte sich so weit wie möglich weg von Fisel, der an einem Ende des Tisches mal wieder Hof hielt. Das ewig gleiche Geschwätz. Sie hörte nicht weiter hin, sondern begann ein nettes Gespräch mit dem Paar aus Iowa. Noch vor dem Dessert verabschiedete sie sich, ging zurück zu ihrem Zelt und setzte sich vor ihren Laptop.
Nina arbeitete bis spät in die Nacht und schrieb einen Abriss als Begleittext zu ihren Mosaikfotos. Als sie damit fertig war, begab sich auch das restliche Lager langsam zur Ruhe. Sie zog ein Flanellnachthemd an und beglückwünschte sich für die Voraussicht, es eingepackt zu haben. Die Tage waren heiß und trocken, aber nachts kam vom Ozean her ein kühler Wind auf.
Sie schlüpfte unter ihre Decke und lauschte eine Zeit lang dem Gelächter und den arabischen Gesprächen der Bediensteten, die nach dem Essen das Speisezelt aufräumten. Kurz darauf verstummten auch diese Geräusche, und jedermann im Camp schlief ein.
Außer Nina. Sie lag wach auf ihrem Feldbett und wünschte, sie hätte am Nachmittag kein Nickerchen gehalten. Außerdem ließ ihr Sandys Fax keine Ruhe. Sie wälzte sich hin und her, döste schließlich ein und erwachte dann doch wieder vom lauten Knacken des Feuers. Sie schlug die Augen auf und starrte ins Leere. Schlafen ging einfach nicht.
Nachdem sie jetzt wieder hellwach war, wickelte sich Nina wie ein Navajo in ihre Decke ein, zog ihre Teva-Sandalen an und schlich sich nach draußen. In dem qualmenden Feuer zerplatzte soeben ein brennender Olivenzweig in lauter kleine rote Funkenschauer. Das einzige andere Licht ging von den Propanlaternen aus, die für den Fall vor den Zelten hingen, dass jemand mitten in der Nacht ein dringendes Bedürfnis verspürte.
Nina schaute in den schwarzen Himmel empor. Die Luft war so kristallklar, dass es ihr vorkam, als könne sie mit bloßem Auge ferne Sternennebel erkennen. Kurz entschlossen schnappte sie sich eine Taschenlampe aus ihrem Rucksack und machte sich in Richtung Lagune auf den Weg. Im Schein des Halbmonds schimmerten die Gräber, als wären sie aus Zinn. Als sie die Treppe erreichte, setzte sich Nina auf die oberste Stufe und starrte hinaus auf den Streifen Mondlicht, der sich im Wasser der Bucht spiegelte.
Draußen auf See glommen gelbe Punkte. Das NUMA-Schiff mit dem türkisfarbenen Rumpf musste noch immer dort vor Anker liegen. Sie atmete tief ein. Die Nacht roch nach abgestandenem Wasser, verfaulender Vegetation, Morast und einer unermesslichen Zeitspanne. Nina schloss die Augen und lauschte. In ihrer Fantasie wurde das Rascheln des Schilfs zum Klatschen der Fellsegel gegen hölzerne Masten und das Quaken der Frösche zum Ächzen der Seeleute, die mit bloßem Oberkörper Amphoren voller Wein und Öl schleppten. Es dauerte nicht lange, und die kalte Luft drang durch die Decke.
Nina fröstelte und erkannte, dass sie völlig die Zeit vergessen hatte. Mit einem letzten Blick auf die Lagune machte sie sich auf den Rückweg.
Als sie den Kamm der Dünen erreichte, vernahm sie ein seltsames Geräusch aus dem Lager. Es klang wie ein Vogel oder eine andere Beute, die in den Fängen eines jagenden Raubtiers angstvoll aufschrie. Dann hörte sie es erneut. Das war kein Tier.
Es war ein
Mensch.
Jemand, der schreckliche Angst oder Schmerzen verspürte. Sie beschleunigte ihren Schritt und erreichte einen Punkt zwischen den Dünen, von dem aus sie das Camp sehen konnte.
Es war ein Anblick wie aus Dantes
Inferno,
wo die gesichtslosen Dämonen die Neuankömmlinge zur höllischen Bestrafung zusammentreiben. Die Expeditionsteilnehmer in ihrer Nachtwäsche wurden von schwarz gekleideten Bewaffneten herumgestoßen. Das Paar aus Iowa kam in Sicht.
Die Frau stolperte und fiel hin. Einer der Angreifer packte ihr langes weißes Haar und schleifte sie über den Boden, während sie voller Panik schrie. Ihr Mann versuchte, ihr zu helfen, wurde aber mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und blieb
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