Das Tor ins Nichts
Weile. »Dann fragt sich nur, wer sie wieder aktiviert hat«, sagte er schließlich. »Und warum er dir eine Armee von Ratten ins Haus schickt.«
Ich sah ihn überrascht an. »Du meinst …«
»Ich meine gar nichts«, unterbrach er mich. »Aber ich glaube nicht, daß es Zufall war, weißt du? Du solltest einen großen Bogen um diese Uhr machen, solange wir nichts Genaueres wissen.«
Die Vorstellung, daß mir irgend jemand diese Rattenarmee geschickt hatte, ließ mich schaudern.
»Aber das ergibt doch keinen Sinn«, stammelte ich. »Diese Ratten waren gefährlich, aber … verdammt, wenn mich jemand umbringen will, wieso schickt er mir dann nicht einen Löwen ins Haus, oder eine giftige Spinne?«
Darauf antwortete Jeremy nicht, aber sein Blick sagte mir deutlich, daß er sich mit dem Gedanken noch beschäftigen würde.
Jeremy sah auf seine Armbanduhr. »Halte dich von dem Ding fern«, legte er mir nochmals nahe, während er aufstand.
»Am besten, du schließt das Zimmer ab und gehst gar nicht mehr hinein, bis wir wissen, was hier gespielt wird.«
Ich versprach ihm, mich nach seinem Rat zu richten, und geleitete ihn zur Tür.
Aber er war kaum in den Porsche gestiegen und davongefahren, als ich mich umwandte, die Treppe ins erste Stockwerk wieder hinaufging und das Arbeitszimmer betrat.
Mary hatte das Zimmer gereinigt, aber in der Luft hing noch der entsetzliche Geruch, den die toten Ratten verströmt hatten, und wie vorhin stand die Tür der Uhr einen winzigen Spalt offen.
Lange Zeit stand ich einfach da und blickte die Uhr an.
Ich wußte nicht genau, warum ich hier heraufgekommen war, entgegen allen feierlichen Versprechen, die ich Jeremy gegeben hatte. Das heißt, eigentlich wußte ich es schon, aber jetzt, als ich der Uhr gegenüberstand, war ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich klug war, zu tun, was ich vorhatte.
Schließlich gab ich mir einen Ruck, ging wieder zur Tür, öffnete sie einen Spalt breit und sah auf den Flur hinaus. Das Haus war noch still. Harlan und die beiden Mädchen würden erst in einer guten halben Stunde kommen, und Mary hatte sich wieder in ihr Reich in der Küche zurückgezogen. Und ich war auch ziemlich sicher, daß sie nicht unversehens hier heraufkommen würde. Mary haßte Ratten. Es war ein Wunder, daß sie vorhin nicht in Ohnmacht gefallen war oder wenigstens einen hysterischen Anfall bekommen hatte. Trotzdem drückte ich die Tür nach kurzem Überlegen lautlos ins Schloß und drehte den Schlüssel zweimal herum, ehe ich mich wieder der Uhr zuwandte.
Es kostete mich größte Überwindung, die mannshohe Tür der Standuhr aufzuziehen, und obwohl ich genau wußte, was mich erwartete, konnte ich einen angewiderten Aufschrei kaum unterdrücken.
Der Tunnel war noch da. Und er sah so widerwärtig und ekelerregend aus wie vorhin. Mehr noch jetzt, als ich mich dazu zwang, ihn in aller Ruhe zu betrachten, erblickte ich mehr und mehr schauderhafte Details. Das war nicht mehr das Tor, wie ich es kannte. Der sich windende, scheinbar endlose Tunnel hatte kaum eine Ähnlichkeit mit jenem, den ich vor zwei Jahren kennengelernt hatte. Die Wände, die zuvor ein unheimliches grünes Licht ausgestrahlt hatten, waren jetzt rot und braun und gelb, fleckig und mit großen, schwärenden Stellen übersät, als … ja, dachte ich schaudernd, als wäre der ganze Schacht krank.
Sollte Jeremy recht behalten und tatsächlich jemand das Tor wieder aktiviert haben, dann hatte er dabei etwas ganz entschieden falsch gemacht.
Ich richtete mich auf, ging zum Schreibtisch zurück und nahm die faustgroße Glaskugel zur Hand, die mir als Briefbeschwerer diente. Einen Moment lang zögerte ich noch, dann holte ich entschlossen aus und warf sie mit aller Kraft in die offenstehende Tür.
Es geschah ganz genau das, was ich erwartet hatte: Die Kugel verschwand, gerade in dem Augenblick, als es so aussah, als würde sie in den Tunnel eindringen und seine widerlich feuchten Wände berühren. Das Tor funktionierte also zumindest in einer Richtung noch.
Aber dann mußte ich wieder an die Ratten denken, und den entsetzlichen Zustand, in dem sich die meisten Tiere befunden hatten. Es gab da etwas, was ich Jeremy verschwiegen hatte, und das mit gutem Grund: Ich hatte keine Sekunde lang ernsthaft daran geglaubt, daß es sich bei den Tieren um echte Mißgeburten handelte, dafür waren es zu viele. Aber es gab eine andere, viel schrecklichere Erklärung: Mit diesem Tor stimmte irgend etwas nicht. Es funktionierte
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