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Das Tor ins Nichts

Titel: Das Tor ins Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ließ den Besenstiel fahren und warf mich mit weit ausgestreckten Händen nach vorne. Aber ich war nicht schnell genug. Meine Finger verfehlten Merlins Schwanz um weniger als einen Inch, und ich sah, wie der Kater sich im Inneren der Uhr in Nichts auflöste, ehe ich mich gerade noch rechtzeitig herumwarf, um nicht hinter Merlin herzufallen.
    »Merlin!« rief ich. »Um Gottes willen, Merlin komm zurück!«
    Natürlich bekam ich keine Antwort, und natürlich kam der Kater auch nicht zurück das hätte er nicht einmal getan, wenn er meine Stimme gehört und noch in der Lage gewesen wäre, auf sie zu reagieren; schon aus Prinzip. Einen Moment lang war ich drauf und dran, einfach hinter ihm herzustürzen, aber im letzten Augenblick meldete sich meine Vernunft wieder zu Wort. Ich liebte Merlin und hätte viel getan, um ihn zu retten aber Selbstmord gehörte nicht dazu.
    Schockiert richtete ich mich auf, starrte einen Moment lang aus aufgerissenen Augen auf die Stelle, an der Merlin verschwunden war, und griff schließlich wieder nach meinem Besenstiel.
    Die Polaroidkamera an seinem Ende war unversehrt, wie der Locher zuvor, und ich sah, daß der Selbstauslöser funktioniert hatte. Leider war das Bild auf der anderen Seite des Tores geblieben, nachdem der kleine Motor der Kamera es automatisch ausgeworfen hatte. Ich hatte ja vorgehabt, nur wenige Sekunden zu warten und den Apparat dann gleich wieder zurückzuziehen.
    Aber das Magazin enthielt ja noch acht weitere Bilder. Ich reinigte die Kamera hastig von dem schwarzen Morast, der an der Linse klebte, beugte mich vor und prallte ein zweites Mal erschrocken zurück.
    Aus der Uhr starrte mich ein weißes Katergesicht an. Merlins halber Kopf und sein rechtes Ohr waren wieder aufgetaucht!
    Eine Sekunde lang blickte er mich aus seinen großen, roten Augen an, dann ließ er ein zufriedenes Miauuu hören und machte Anstalten, abermals zu verschwinden. Blitzschnell griff ich zu, bekam eine Handvoll seidenweiches weißes Fell zu fassen und wurde nach vorne und in die Uhr gerissen, als Merlin einfach weiterlief. Für eine halbe Sekunde durchfuhr ein eisiges Prickeln meine Fingerspitzen, dann schrie ich auf, warf mich zurück und kroch hastig rücklings ein Stück von der Uhr fort.
    Die nächsten dreißig Sekunden verbrachte ich damit, einfach dazusitzen und die Fingerspitzen meiner rechten Hand zu betrachten. Sie waren unverletzt, und sie fühlten sich auch vollkommen normal an. Es schien, als funktioniere das Tor mit einemmal wieder einwandfrei. Zumindest war meine rechte Hand weder verstümmelt noch sonst irgendwie grausig entstellt.
    Sicher, das war noch lange kein Beweis aber mir lag einfach zu viel an Merlin, als daß ich ihn so mir nichts, dir nichts seinem Schicksal überlassen hätte. Und außerdem wollte ich wissen, was auf der anderen Seite dieses Tores lag. Ich stand auf, sah mich nach etwas um, das ich nötigenfalls als Waffe benutzen konnte, und bemächtigte mich schließlich des Besenstiels, von dessen Ende ich die Kamera einfach abriß.
    Dann trat ich mit einem entschlossenen Schritt in die Uhr hinein.
    Es war wie die beiden Male zuvor, als ich das Tor benutzt hatte: Ich fühlte nichts, keinen Ruck, keinen Schmerz, keine Hitze oder Kälte, nicht einmal eine Bewegung, doch von einem Lidschlag zum nächsten befand ich mich nicht mehr in meinem Arbeitszimmer, sondern ja, wo eigentlich?
    Bis auf einen schwachen grünen Schein hinter meinem Rücken herrschte tiefe Finsternis. Ich drehte mich um und erkannte einen grünleuchtenden, wabernden Schlauch, der jählings im Nichts begann und in die Unendlichkeit zu fuhren schien; ein Anblick, der fürchterlich war, den ich aber kannte: Es war die andere Seite des Tores, das in meinem Arbeitszimmer endete. Und in dieser Richtung sah es noch genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte.
    Aber ich wollte mich vergewissern, daß es auch wirklich funktionierte. Entschlossen machte ich einen Schritt in das grüne Wabern hinein, fand mich für eine Sekunde in meiner gewohnten Umgebung wieder und kehrte gleich darauf zurück.
    Erst dann sah ich mich aufmerksam um.
    Viel gab es allerdings nicht zu sehen. Der grüne Geisterschein des Tores verlor sich schon nach wenigen Schritten in absoluter Finsternis, und das wenige, was ich erkennen konnte, war unergiebig genug: Ich befand mich in einem halbrunden, knapp drei Yards hohem Tunnel, auf dessen Wänden aus uralten bröckligen Ziegelsteinen Schimmelpilz und schmieriger Moder und Nässe

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