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Das Tor ins Nichts

Titel: Das Tor ins Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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fallen und stürzte vom Wagendach herunter. Die Lokomotive stieß einen schrillen Pfiff aus. Eisenzahn versuchte noch zu reagieren, wirbelte mit übermenschlicher Schnelligkeit herum und duckte sich gleichzeitig. Aber er hatte die Drehung noch nicht einmal halb beendet, als der Zug unter der Brücke hindurchdonnerte.
    Es war eine sehr niedrige Brücke.
    So niedrig, wie ich gehofft hatte.

    Das erste, was ich wieder bewußt wahrnahm, war das schrille Pfeifen der Lokomotive. Sekundenlang blieb ich reglos liegen und wartete darauf, daß der hämmernde Schmerz in meinem Hinterkopf nachließ. Dann öffnete ich die Augen, erkannte einen Ausschnitt regengrauen niederländischen Himmels über mir und nahm staunend die Tatsache zur Kenntnis, daß ich den Sturz vom Zugdach überlebt hatte.
    Vorsichtig richtete ich mich auf. An meinem Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht irgendwie geprellt, gestaucht oder überdehnt war. Als ich versuchte, mich auf Hände und Knie zu erheben, unterdrückte ich nur mit Mühe einen Schmerzensschrei.
    Dabei hatte ich noch Glück gehabt. Ich war nicht direkt auf den Bahndamm geprallt, sondern ein Stück weit die Böschung hinuntergekugelt, ehe ein Busch meinen rasenden Sturz gebremst und mich vermutlich vor einigen üblen Knochenbrü
    chen oder Schlimmerem bewahrt hatte. Wenn ich von den zahllosen Kratzern und Abschürfungen an meinen Händen und im Gesicht absah, schien ich fast unverletzt zu sein. So unverletzt, wie man eben ist, wenn man von einem mit voller Geschwindigkeit dahinpreschenden Zug springt …
    Irgendwo, sicher schon eine oder zwei Meilen entfernt, pfiff die Lokomotive ein weiteres Mal, und der Laut erinnerte mich daran, daß ich einen triftigen Grund gehabt hatte, vom Dach des Wagens zu springen. Ich sah mich sichernd nach allen Seiten um und stand dann vollends auf. Mühsam und noch immer ziemlich wackelig auf den Beinen erklomm ich die Böschung und bewegte mich auf die Brücke zu. Ich war nicht sehr weit von der Stelle entfernt, an der sie sich über die Geleise spannte zwanzig, vielleicht dreißig Yards. Weniger als eine Sekunde, bei der Geschwindigkeit, die der Zug gehabt hatte. Der Gedanke ließ mich frösteln. Eine Sekunde … Wenn ich auch nur um eine Winzigkeit zu spät reagiert hätte …
    Mein Blick glitt über das regennasse Gras der Böschung, fand einen niedergewalzten Busch und folgte der Spur aus aufgewühltem Erdreich und entwurzelten Sträuchern, die sich den Abhang hinabzog. Einen Moment lang ergriff mich die absurde Angst, daß sich die Büsche bewegen und Eisenzahn in alter Mordlust auftauchen könnte, aber ich vertrieb den Gedanken und schimpfte mich im stillen einen Narren. Alles, was ich finden würde, war eine Leiche.
    Trotzdem zögerte ich noch, von den Bahngeleisen hinunterzutreten. Allein der Gedanke an den Anblick, den der Tote bieten mußte, drehte mir schier den Magen um. Und … ich hatte einen Menschen getötet, zwar in einwandfreier Notwehr und vermutlich ohne irgendeine andere Wahl gehabt zu haben, aber tot war tot, und der Gedanke erfüllte mich mit einem Gefühl von Schuld, gegen das ich allen Rechtfertigungen zum Trotz nicht ankam. Schließlich überwand ich mich doch, die Böschung hinunterzusehen und der Spur zu folgen. Der Boden war fast handtief aufgerissen, wie von einer gewaltigen Egge umgepflügt, das Gras glattweg abrasiert und selbst ein junger Baum, der die Stärke meines Handgelenkes hatte, geknickt, als wäre ein Meteor vom Himmel gestürzt. Überall lagen Fetzen von Kleidern, zerborstenes Metall und Dinge, die derart zusammengestaucht waren, daß ihre ursprüngliche Form nicht mehr zu erkennen war. Dann fand ich einen Schuh, der wie von einer Kreissäge halbiert worden war. Und schließlich endete die Spur am Ufer eines schmalen, aber allem Anschein nach sehr reißenden Flüßchens, das sich parallel zum Bahndamm dahinzog.
    Was ich nicht fand, war Eisenzahn.
    Zwei, dreimal hintereinander suchte ich die Böschung rechts und links der gewaltigen Schleifspur ab, zuerst flüchtig und in aller Hast, dann gründlicher. Aber das Ergebnis war jedesmal das gleiche: Die Schleifspur endete nach einer Strecke von mehr als dreißig Yards im Uferschlamm des Flusses, aber von Eisenzahn selbst war nichts zu sehen.
    Die logische Erklärung war sicherlich, daß die Wucht des Sturzes ihn bis in den Fluß geschleudert hatte, wo ihn die Strömung davontrug; aber ein inneres Gefühl sagte mir, daß es nicht so gewesen war und daß ich

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