Das Totenhaus
ihr niemals wehtun können.«
Ich dachte an die Studenten, die wir vernommen hatten, und an die Gerüchte, die über Affären zwischen Professoren und Studenten kursierten. Ich hätte sofort wissen sollen, dass Winston Shreve ein potenzieller Täter war. Hatte er uns nicht erzählt, dass seine Exfrau, Giselle, in Paris eine seiner Studentinnen gewesen war? Wie typisch, das Muster zu wiederholen. Er war wahrscheinlich ein klassischer Fall von gehemmter Entwicklung, fixiert auf zwanzigjährige Studentinnen und auf die andauernde Wiederholung der ursprünglichen Liebesbeziehung.
»Es gibt einen Weg, wie Sie mir helfen können, Alex«, sagte er. Er ging vor mir in die Hocke und hob die Decke von meinen Schultern, um sie mir über den Kopf zu legen. »Ich meine, als Staatsanwältin. Ich kann es Ihnen erklären, und dann können Sie ihnen sagen, dass ich unschuldig bin.«
Falls er darauf eine Antwort erwartete, wartete er vergeblich.
»Charlotte und ich hatten seit einigen Monaten eine Beziehung. Ja, sie fing hin und wieder was mit anderen Jungs an, aber ich denke, sie war genauso verliebt in mich wie ich in sie. Sie war überhaupt nicht wie die meisten anderen Kids. Sie dachte wie eine Frau, nicht wie ein Kind.«
Wie oft schon hatte er eine naive junge Frau mit diesem Scheißsatz geködert?
»Ich habe sie mit auf die Insel genommen, um sie in das Projekt zu holen. Sie interessierte sich nicht sehr für die Arbeit hier, aber sie liebte den Ort selbst. Nicht den neuen Teil«, sagte er und deutete in Richtung der besiedelten Hälfte der Insel. »Sie mochte meine Erzählungen von der Vergangenheit, der Geschichte der Insel. Und sie liebte es, durch die Ruinen zu wandern.«
Natürlich würde es Charlotte Voight hier gefallen haben. Sie war selbst eine Ausgestoßene, isoliert von ihrem Zuhause und ihrer Familie, vor der sie nach New York geflüchtet war und sie fühlte sich den meisten ihrer Altersgenossen am College fremd. Diese Insel, über Jahrhunderte hinweg ein Aufenthaltsort für Ausgestoßene, hatte auch sie in ihren Bann gezogen.
»Im letzten Winter kam Charlotte oft abends in meine Wohnung. Es ist leicht, unsere Beziehung zu missbilligen aber ich war ein um Längen besserer Umgang als die Halunken, die sie die ganze Zeit mit Stoff versorgten. Aber eines Nachts im April wollte sie hierher auf die Insel kommen. Es war ein herrlicher Frühlingsabend. Sie dachte, es wäre romantisch, sich im Freien zu lieben, mit Blick auf die Stadt.«
»Das hört sich mehr nach Ihrer Idee an.« Es hörte sich genauso an wie das, was er Mike und mir über sein Roosevelt-Island-Rendezvous mit Lola Dakota erzählt hatte. »Ein romantischer Abend mit einer Flasche Wein auf einer Decke vor den Ruinen, mit Blick auf die Windjammer, das Feuerwerk und das River House, wo Ihr Vater aufgewachsen ist.«
Warum konnte ich mich so gut an die Vernehmungen von letzter Woche erinnern, aber nicht daran, was mich heute außer Gefecht gesetzt hatte?
»Es spielt doch wohl kaum noch eine Rolle, wessen Idee es gewesen war, oder? Die Tragik war, dass ich Charlotte nicht dazu bringen konnte, die Finger von den Drogen zu lassen, egal, wie sehr ich mich auch bemühte. Sie nahm sie schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr und probierte alles aus, was man ihr anbot. Also hatte sie sich auf dem Weg zu mir einige Pillen besorgt. Aber Sie müssen verstehen, dass ich das zu jenem Zeitpunkt nicht wusste.«
»Wir sprachen mit ihren Freunden. Sie ist nie bei Julian angekommen. Ist es das, was Sie meinen? Pillen aus dem >Labor<, wie sie es nannte?«
Shreve setzte sich in den Fensterrahmen, bevor er antwortete. »Wenn Charlotte sagte, dass sie ins Labor ging, dann meinte sie das hier.«
Wie dumm von mir. Strecker Memorial Laboratory. Das pathologische Labor.
»Makaber, werden Sie sagen. Aber das war Charlottes Humor. Sie wollte high werden und im Labor und dem alten Krankenhaus herumspazieren. Sie wollte sehen, welche Geister sie heraufbeschwören konnte. Sie hatte im Gegensatz zu den meisten jungen Leuten keine Angst oder Abscheu vor diesen Vorstellungen. Sie fand es beinahe mystisch, wie eine Verbindung zu einer anderen Generation, einer anderen Zeit.«
»Und in der Nacht?«
»Wir sind zusammen hier herüber gefahren. Ich habe natürlich einen Hauptschlüssel, um auf das Gelände zu kommen. Ich hatte ein paar Flaschen Wein mitgebracht. Nachdem Charlotte jeden Winkel erforscht hatte, den sie sich anschauen wollte, lagen wir stundenlang auf der Decke, blickten
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